Der Großseher

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Ariana war der Betäubungstrank äußerst schlecht bekommen, doch zunächst hatte Albus keine Ahnung von dem Unheil, das er angerichtet hatte. Als er am nächsten Morgen aufwachte, fühlte er sich, als sei er in der vergangenen Nacht um ein halbes Jahrhundert gealtert. Jeder Muskel im Leib schmerzte ihm, aber er fühlte auch eine schelmische Zufriedenheit dabei, als er sich zu seinem Kleiderschrank schleppte und den Morgenmantel hervorholte. Von Gellert war keine Spur zu sehen. Er wird wohl in den frühen Morgenstunden verschwunden sein, dachte Albus und schmunzelte, denn er hatte ihn auch nicht für die Sorte nächtlichen Besuchs gehalten, die zum Frühstück blieb.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als er sich in seinen Morgenrock gewickelt ins Erdgeschoss begab. Ariana saß am Küchentisch und starrte stumm auf den leeren Teller vor sich. Etwas an ihrer Haltung machte ihn argwöhnisch und besorgt. „Ariana? ... Riri?", versuchte er es mit dem Spitznamen, den Aberforth manchmal verwendete.

Auf das Kosewort hin wandte sie ihm den Kopf zu und betrachtete ihn mit einem seltsam leeren Blick. Albus eilte zu ihr und setzte sich schnell – ein wenig zu schnell allerdings, und er verzog das Gesicht.

Keine gute Idee nach der gestrigen Nacht, dachte er, zwang sich dann aber zur Konzentration auf das unmittelbare Problem vor ihm. Ariana schien geistig völlig abwesend zu sein, und er brachte sie für einige Zeit nicht dazu, ihm auf seine Fragen zu antworten. Erst nachdem er ihr eine Tasse Tee mit ein paar Tropfen des Glückstranks Felix Felicis eingeflößt hatte, den seine Mutter für besonders schwere Momente im obersten Wandschrank versteckt hatte, kehrte Leben in ihre Gesichtszüge zurück. Erleichtert wollte er sie umarmen, doch Ariana streckte die Hände aus und hielt ihn auf Abstand.

Albus vermutete, dass sie ihm für ihren unnatürlichen Schlaf die Schuld gab, und er konnte sie mit noch so vielen Aufmunterungsversuchen nicht von ihrem Argwohn abbringen. Diese Sturheit war eine schlimme Strafe. Er fühlte sich schuldig, besonders wenn er an die niederen Motive dachte, die ihn zu seinem Drachenblut-Experiment bewegt hatten. Das Klügste schien ihm, erst einmal in Arianas Nähe zu bleiben und die gewohnten Abläufe in ihrem Alltag wieder einzuhalten. Er hoffte, sie würde ihm wieder ihre fröhliche Seite zeigen, sobald die Nachwirkungen des Acontiums abgeebbt waren.

Es dauerte einige Tage, bis die Besserung eintrat – einige Tage, die Albus an Arianas Krankenbett verbrachte, strickend und ihr gut zuredend, während er wegen seiner Gewissensbisse recht einsilbige Antworten auf Gellerts Briefe zurückschickte.

Ingrid kehrte von ihrem Botenflug aus Hogwarts zurück, und es kam ihm sehr gelegen, dass er sich nicht mehr mit dem unheimlichen Nadir abgeben musste, wenn er eine Nachricht übermitteln wollte. In ihrer fast menschlichen Art gurrte sie verständnisvoll und knabberte zur Begrüßung an seinem Finger, aber auch diese Zärtlichkeit konnte ihn nicht von seinen Selbstvorwürfen abbringen.

Als er sich ein paar Tage später gegen Morgen zurechtmachte, um zum Grab seiner Mutter zu gehen, hörte er die vertraute, aber doch unwillkommene Stimme seines Bruders – unverkennbar durch den breiten Küstenakzent, den er von den Bewohnern in Godric's Hollow übernommen hatte, obgleich die Familie Dumbledore aus Mittelengland stammte. Albus trat hinaus auf die Treppe und hörte nun Arianas Lachen aus der Küche. Das grüne Flackern im Türrahmen ließ vermuten, dass Aberforth oder viel mehr sein Kopf durch Flohpulver in den Küchen-Kamin gereist war. Strengstens verboten für Hogwarts-Schüler, aber das war ihm offenbar egal gewesen. Soeben musste er etwas sehr Lustiges erzählt haben, denn Ariana giggelte heftig.

Albus wollte sich gerade weiter zur Haustür bewegen, als Ariana prustete: „Aber so ein Besen im Hintern tut bestimmt weh!"

„Mir doch schnuppe", entgegnete Aberforth. „Weißte, was dieses Zebra-Vieh mit mei'm Ohr angerichtet hat?"

Summer of '99 - Die Herren des TodesWhere stories live. Discover now