Die Herren des Todes

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Albus hörte das nahe Schnauben eines Dampfkessels und das heisere Heulen eines Signalhorns, doch er konnte nichts erkennen als dunkle Schemen. Ein eigenartiger halbdurchsichtiger Stoff, der ihn komplett einhüllte, trübte die Sicht und verschaffte ihm das Gefühl absoluter Beklemmung, denn er war nicht allein unter dem eigenartigen Überwurf.

„Gellert?"

„Psst."

„Was ist das hier? Wo sind wir?"

Er wollte den Stoff beiseiteschieben, um eine bessere Orientierung zu bekommen, doch ein leichter Schlag auf seine Hand ließ ihn zurückschrecken. „Au, was soll denn das?"

Plötzlich rief eine Stimme dicht in ihrer Nähe, dass alles bereit zur Abfahrt sei. Albus klappte vor Erstaunen der Mund auf, denn die Ansage war in Gellerts Muttersprache erfolgt, und er hatte sie dennoch verstanden.

Das laute Tuten der Dampflok ertönte erneut, dann erkannte Albus verschwommen, wie sich direkt zu ihrer Linken ein Zug in Bewegung setzte und schnaubend den Abhang hinabratterte. Ein Berghang? Ein Bahnhof?

Als das Geräusch langsam in der Ferne verhallte, raunte eine Stimme in Albus' Ohr: „So. Nun können wir wieder reden. Dein Geplapper hört man auch durch diesen Umhang, Albus."

„Bist du das wirklich?", fragte Albus. „Was ist mit deinem Akzent passiert?"

Von dem so vertraut hüpfenden Tonfall war kaum noch etwas zu hören. „Übung. Hast du etwa Zweifel, dass ich es bin?" Albus spürte, wie sich ein paar schmale Lippen auf die seinen drückten, sanft und gleichzeitig in dieser unterschwellig fordernden Weise, die er nur zu gut kannte. Erleichtert erwiderte er den Kuss. Etwas anders fühlte sich das allerdings doch an – anders und aufregend.

„Das mit deinem Bart ist interessant", sagte Gellert.

Albus fasste sich ans Kinn und merkte nun erst, dass er einen Vollbart trug. Seine andere Hand tastete nach Gellerts Nacken, um die vertrauten Locken zu suchen, doch stattdessen fühlte er dort nur kurz geschorene Stoppeln. Auch sein eigenes Haar war deutlich kürzer, bemerkte er im nächsten Moment, als Gellerts Hand zu seinem Hinterkopf weiterwanderte. Wurde es mit einem Mal wärmer unter diesem Umhang? Die Luft zwischen ihnen schien wie elektrisiert.

Ihre Lippen fanden sich erneut und beide atmeten geräuschvoll, während sie weitere Küsse austauschten. Als Bewegung in ihre Umarmung geriet, verrutschte der Stoff über ihnen ein wenig, und Gellert nahm schnell beide Hände, um ihn festzuhalten. Albus rang nach Atem. „Warum ist das so gut? So anders?"

„Nun, ich vermute, wir haben mittlerweile einfach mehr Erfahrung."

„Was?"

„Na, wir haben einen kleinen Zeitsprung gemacht. Ins Jahr 1914, meine ich."

Seine Hände vollführten eine schnelle Drehung, und der Schleier über ihnen lüftete sich. Albus sah für einen Moment, dass es ein sehr alter Umhang mit eigenartig silbrigen Musterungen war, doch als Gellert sich den Stoff demonstrativ um die Schultern legte, stutzte er: Gellerts Körper war verschwunden, nur sein Kopf, ein Kopf mit erschreckend blassem Teint und weißblondem kurzen Haar und Schnurrbart blieb sichtbar.

„Ein Tarnumhang - der Tarnumhang?"

„Verstehst du nun, warum du zuvor die Klappe halten solltest? Wir kamen mit einem ganzen Schwung von Reisenden hier an. Eigentlich hab' den Tarnumhang ja immer für das langweiligste Objekt der Heiligtümer des Todes gehalten, aber ... er hat seine Vorzüge ..."

Gellert rückte näher und machte Anstalten, den Umhang wieder über sie beide zu ziehen, doch Albus hielt ihn zurück. Das war eine ganze Menge neuer Informationen.

Summer of '99 - Die Herren des TodesWhere stories live. Discover now