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Tim

Während ich zum richtigen Gleis rannte, blieben mir kaum Zeit und Atemluft, um meine Gedanken zu ordnen. Ich hatte gedacht, es müsste das Ticket für die Hinfahrt sein! Weil... er war doch bei mir gewesen, ich hatte ihn nicht erkannt und er war deprimiert umgekehrt. Warum hatte er dann eine Rückfahrkarte gezogen, wenn er bereits beschlossen hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen? Der Zeitstempel zeigte mir sogar eindeutig, dass Stegi sie erst vor wenigen Minuten gezogen hatte! ...War ihm der Entschluss erst mit dem Eintreffen der Bahn gekommen? Völlig spontan? Das musste es wohl sein... Stegi war echt verzweifelt gewesen, um solche Ideen zu entwickeln und sie dann einfach skrupellos in die Tat umzusetzen. Ich würde das nicht zulassen, nicht nochmal!

Schlitternd erreichte ich den überfüllten Bahnsteig und holte ein paar Mal tief Luft. Puh, ich hatte noch knapp über eine Minute Zeit, dann kam der Zug und mein Freund war gerettet!

Aber die Sache mit der Fahrkarte ließ mir keine Ruhe. Irgendwas war da mächtig faul! Nur was? Nervös drängelte ich mich durch die Menge ein Stück weiter nach vorne. Stegi war einfach viel zu klein, um über die Köpfe der anderen Leute gucken zu können! Es fühlte sich an, als wäre ich der Lösung des Rätsels dieses Mal noch näher als je zuvor, nur ein winziges Teil fehlte mir noch! Murren und Unmut von beiden Seiten, dann stand ich endlich ganz vorne und hatte freien Blick auf das Gleisbett vor mir. Zwei parallel zueinander verlaufende Schienenpaare, eins vom Zug in Richtung Karlsruhe, eins vom benachbarten und ebenfalls vollen Bahnsteig, dessen Zielort ich durch den steilen Winkel nicht entziffern konnte. Von beiden Zügen fehlte aktuell noch jede Spur. Irgendetwas... ganz nahe...! Was, wenn ich die Sache von der völlig falschen Seite anging? War die Lösung...?

Mir wurde kalt. Schnell wandte ich den Blick von den Strecken ab und drehte mich um. Vielleicht war es ein großer Fehler von mir gewesen, mich so nahe an die Gefahrenzone zu begeben! Ich wollte mich zurück zwischen die anderen Menschen zwängen, aber ein lautes Lachen von der Seite irritierte mich genug, dass ich innehielt und mich umschaute. Etwas explodierte förmlich mitten in mein Gesicht. Eine Tasche oder etwas ähnliches von einem vorbei eilenden Passanten hatte mich erschreckend perfekt getroffen und betäubte kurz meine Sinne. Nicht einmal schreien konnte ich. Ich spürte nur noch meine Füße nach hinten ins Nichts stolpern und wie ich rückwärts ins Gleisbett stürzte.

Stegis Suizid... War es gar kein Selbstmord gewesen, sondern... einfach nur ein unglücklicher Unfall? Zufällige Komponenten, zur falschen Zeit am falschen Ort? Hatte es niemand jemals hinterfragt, weil es so offensichtlich wirkte? Stegi, der schon einmal den Gedanken an ein frühes Ende gehegt und sich im letzten Moment seinen Mitmenschen anvertraut hatte, war schlicht und einfach rückfällig geworden. Er... hatte niemals... sterben wollen?

Blendende Schmerzen durchzuckten meinen Hinterkopf, als ich hart auf den Metallschienen aufschlug, bestialisches Brüllen in meinem Gehirn, ich konnte mich nicht mehr bewegen und hörte am Zischen und Vibrieren unter mir, dass der Zug nach Essen jede Sekunde einfahren konnte und Stegis Körper mit meinem Bewusstsein darin unter sich zermalmen würde! Die Geschichte wiederholte sich und ich hatte nichts, absolut gar nichts daran ändern oder verhindern können!



Nein!

Noch blieb mir ein wenig Zeit!

Stegi war noch nicht verloren!

Ich musste mich jetzt bloß zusammenreißen und all meine Energie darein legen, so schnell wie nur möglich von den Gleisen zu kommen!

Angestrengt kämpfte ich gegen das Taubheitsgefühl an, das sich in meinem Körper auszubreiten drohte. Wenn ich es nur schaffte, mich ein wenig vorwärts zu schieben oder zu ziehen! Nur auf die benachbarte Strecke, dort konnte mich dann jemand retten! Bebend vor Schmerzen wälzte ich mich auf den Bauch und hatte sofort das Gefühl, gleich kotzen zu müssen. Meine ganze Welt kreiste in schwindelerregend schnellen Bahnen um mich. Mein Kopf tat so sehr weh und ich konnte nicht klar sehen. Das schaffte ich nicht! Nicht so! Ich war viel zu langsam und zu schwach! Dazu kam noch das schrille Kreischen des Metalls, das die Ankunft des Zuges ankündigte und in mir den Instinkt weckte, mich klitzeklein zusammen zu rollen, meine Beine an meinen Körper zu ziehen und zu weinen. Wie ein kleines, verlorenes Kind.

In diesem Moment ertastete ich mit meiner Hand einen festen Halt und ich überwand den Drang nach Schutz, der mir gegen die drohende Gefahr sowieso nichts genützt hätte. Weiter! Einfach weiter! Hauptsache überleben! Meine Ohren rauschten. Aber das war egal. Meine Finger krallten sich in den kalten Gegenstand, mit den Füßen stieß ich mich ab. Es klappte! Ein kleines Stück hatte ich mich so vorwärts arbeiten können! Ich würde es schaffen!

Verbissen kämpfte ich. Einmal rutschte mein Fuß weg und kratzte nur ohne jeden spürbaren Effekt über den groben, schwarzen Schotter. Mir entwich ein leises Wimmern. So kam ich nicht mehr schnell genug voran und noch lag ich zur Hälfte im Gefahrenbereich. Also fing ich an, mich teils vorwärts zu robben, teils zu werfen, wann immer ich es konnte. Zwar wurde mir dadurch noch schwindliger als zuvor, aber wie durch ein Wunder funktionierte es! Mit letzter Kraft hievte ich noch meine Beine von den bebenden Gleisen und winkelte sie an meinen Körper an, nur um eine Sekunde später den Fahrtwind des riesigen Kolosses an mir reißen zu spüren, während er quietschend und bremsend in den Bahnhof einfuhr. Ich lebte noch... Ich hatte es geschafft... Gerade noch rechtzeitig, ohne weitere Verletzungen als die, die ich durch den Sturz bekommen hatte...

Das Adrenalin ließ nach und ich begann plötzlich, zu zittern und wieder die Kontrolle über meine Bewegungen zu verlieren. Alles fühlte sich seltsam taub und kalt an! Beinahe bemerkte ich es nicht einmal, dass mich zwei Männer unter den Armen griffen und mit vereinten Kräften nach oben auf den Bahnsteig zurück hievten. Nur an ihren aufgeregten Stimmen wurde es mir allmählich klar, auch wenn ich nur Bruchstücke über das schwammige Brummen verstand.

"...bin Arzt... muss ins Krankenhaus... genäht werden... hat Glück gehabt..." Im nächsten Augenblick explodierte ein Lichtblitz vor meinem rechten Auge, das scheinbar kraftvoll aufgerissen worden war. "Hallo? Kannst... hören? Du musst bei mir bleiben, okay? Konzentriere... meine Stimme..."

Ich versuchte es. Mir war klar, dass die Gefahr noch nicht völlig gebannt war und ein riesiges, offenes Loch in meinem Hinterkopf klaffen musste, das meine Schmerzen und Schwindelgefühle in Wellen auslöste, aber ich hatte nichts mehr, woran ich mich festklammern konnte. Mein Bewusstsein drohte mir zu entgleiten. Da war nur noch Schwärze um mich herum. Finsternis, die mich zu verschlingen drohte. Und dabei hätte ich es fast geschafft...! So nahe... und doch so fern... Sorry Stegi...!

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Endlich mal n episches Finale, nachdem ich mich in den letzten Geschichten immer so sehr darüber geärgert hatte, wie schlecht die mir nur gelungen sind!

Rechnet mal morgen und am Dienstag noch nicht fest mit Uploads. Das Problem ist meine letzte Klausur, für die ich noch lernen muss! Wenns so kommt, werde ich aus Ausgleich aber beide Kapitel am Mittwoch hochladen, versprochen!

The Story We Share (#Stexpert)Where stories live. Discover now