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Stegi

Oh oh... Schon bevor ich mich umdrehte, wusste ich, zu welchem Schlag an Personen die Typen hinter mir gehörten. Die, die ich prinzipiell mied, Leute, die schwächere oder uncoolere als sie selbst so lange nieder machten, bis diese es nicht mehr ertrugen. Mobber. Jetzt ging das nicht, sie waren bereits auf mich aufmerksam geworden! Viel schlimmer noch, ich schien Teil ihrer Gruppe zu sein und hatte Anna damit wieder vergrault, kaum dass ich unser gesplittertes Verhältnis wieder ein wenig gebessert hatte. Verdammt, nein! Dieser Alptraum hörte und hörte einfach nicht auf!

Ich bekam einen Schlag gegen die Schulter, der wohl kumpelhaft gemeint war, aber mir stattdessen ziemlich weh tat. Glücklicherweise brachte er mich aber nicht noch aus dem Gleichgewicht und ich konnte mich leicht bebend zu den beiden Rüpeln umdrehen, die mich verschmitzt angrinsten. "Wir haben dich schon etwas vermisst, man! Ist echt langweilig hier ohne jemanden, der ab und zu mal alles aufmischt. Wie gehts?"

Ich konnte nicht antworten, so heftig schlug mein Herz gegen meinen Brustkorb. Beinahe fühlte es sich an, als würde es sich aus meinem Körper heraus katapultieren wollen. Instinktiv wich ich rückwärts. Etwas lähmte meine Gedanken, stellte alle meine Sinne auf Gefahr! Aber das bisschen Abstand, das ich soeben geschaffen hatte, wurde rücksichtslos wieder nichtig gemacht, indem die beiden mir näher auf die Pelle rückten. Der links von mir war klein und recht dürre, aber der rechts daneben gleich groß wie ich mit einem flotten Man Bun und kurz getrimmten Seiten. Mir fielen sofort die Muskelberge an seinen verschränkten Oberarmen auf und ich schluckte schwer. W-wenn der zuschlug... dann wars wohl vorbei... Und obwohl der andere wie ein typischer Fall von Mitläufer schien, hatte er bisher sämtliches Reden übernommen. Seine Stimme quäkte leicht als völliger Kontrast zu dem unverschämten Ton in seinen Worten. "Hey Tim. Hey, nun warte doch mal!"

Wieder hatte ich versucht, Platz zwischen uns zu schaffen, wieder war es mir nicht gelungen. "Was ist los?"

"Nichts!", gelang es mir geradeso zu piepsen. Zwar war ich ganz augenscheinlich Teil ihrer Gruppe, aber höllische Angst hatte ich dennoch vor den beiden. Mein Magen begann zu rebellieren und im nächsten Moment war mir zusätzlich auch noch schlecht, als müsse ich mich gleich übergeben. "Wirklich?"

"Lass gut sein Clemmi", mischte sich jetzt zum ersten Mal der stille Kerl in die Unterhaltung ein. Obwohl er ganz ruhig klang, hatten sich seine Augen beinahe unmerklich verengt und schienen mich zu scannen. Urgh... "Bis später, Tim."

Mit einem Mal fiel die ganze Anspannung von mir ab und schwer atmend schaute ich den beiden hinterher, wie Clemmi mehr oder weniger gegen seinen Willen von mir weggezogen wurde. "Was ist mit ihm los, Paul?", hörte ich ihn noch fragen, aber Paul antwortete nur mit einem Schulterzucken. 

Endlich kam wieder Bewegung in mich, ich drehte mich um und lief noch etwas steifbeinig und mit in den Pullovertaschen vergrabenen Händen in die entgegengesetzte Richtung. Unbewusst hoffte ich, Anna wiederzufinden. Sie war die einzige, die ich hier wenigstens flüchtig kannte und vor der ich nicht solchen Schiss hatte wie vor meinen "Kumpels".


Am Ende des Tages war ich komplett erschöpft. Noch immer war ich nicht in meinem richtigen Körper aufgewacht und langsam verlor ich ehrlich gesagt auch meine Hoffnungen darauf, dass es noch passieren würde. So einen langen Traum hatte ich bisher nie gehabt und alles fühlte sich zu real an, um nur in meinem Kopf zu existieren.

Und mit Sicherheit hätte ich mich selbst nie so tief in Bockmist geträumt wie jetzt. In jeder einzelnen Unterrichtsstunde musste ein Lehrer mir offenbar beweisen, wie sehr er mir überlegen war und hatte mich gepiesackt, bis ich mich schlechter als jemals zuvor gefühlt hatte. Sechs Standpauken später wäre ich beinahe in Tränen ausgebrochen und nur so unglaublich froh gewesen, als endlich alle Schüler enthusiastisch auf den Ausgang zugeströmt waren. Es hieß, dass zumindest diese Hölle überstanden war!

Anna hatte nicht nochmal großartig mit mir geredet, obwohl wir mehrere Fächer zusammen hatten, aber als ich sie drucksend um irgendeinen Stift und etwas Papier zum Mitschreiben gebeten hatte, war sie doch weich geworden. Sie war echt toll! Nur hatte ich sie für den Heimweg verpasst, weil mich Paul und Clemmi nach Schulschluss erneut abgefangen hatten um sich zu erkundigen, ob es mir jetzt wieder besser ging. Wieder war ich ihnen irgendwie ausgewichen und dann hatte ich plötzlich ohne jede Orientierung alleine dagestanden. Wie ich den Weg zurück zu Tims Zuhause gefunden hatte, war mir ehrlich gesagt selbst ein Rätsel. Ich hatte riesiges Glück gehabt! Und beim Abendessen war es mit Meckern weitergegangen, Auslöser war Karo gewesen, bis unsere Mutter sie schließlich gebremst hatte. Sie hatte scheinbar Mitleid mit mir gehabt, weil ich nur so schweigend und kleinlaut da gesessen hatte. Mein Bruder, Max übrigens, und mein Vater, von dem ich noch absolut gar nichts genaueres wusste, hatten keine Partei ergriffen. Aber etwas war mir aufgefallen: Wirklich alle, ob Lehrer, Familie, Freunde oder Mitschüler erwarteten offenbar von mir, dass ich Widerworte auf alles gab, was mir an den Kopf geschleudert wurde. Als ich heute mitgeschrieben und den Lehrern zugehört hatte, war Getuschel ausgebrochen und neugierige Blicke hatten dauernd auf mir gelegen. Der Tag als "Tim" war so vollkommen verschieden von meinem Leben als Stegi, dass ich nicht einmal anfangen konnte, alle Unterschiede zu beschreiben! Es hatte mir vor Augen geführt, wie gut ich es eigentlich hatte, aber auch wie großen Einfluss mein Verhalten auf meinen Alltag hatte. Nie war ein Lehrer bisher darauf gekommen, mich anzubrüllen, weil ich einen Fehler gemacht hatte. Sie wussten, dass ich clever genug war, um es besser zu wissen und es beim nächsten Mal anders zu machen!

Müde ließ ich mich auf das Bett in meinem Raum plumpsen und betrachtete die Decke über mir. In welcher Stadt ich mich befand, hatte ich heute auch noch herausgefunden. In Essen. Wenn ich mich nicht täuschte, war das mehrere Stunden von Karlsruhe entfernt. Und ich war noch nie als "Stegi" hier gewiesen, was erneut die Frage aufwarf, wie ich in einem Traum ein ganzes Stadtnetz entwerfen konnte mit sämtlichen Details wie einzelnen Läden, dem Unkraut im Bürgersteig, die ganzen Leute die ich auf der Straße gesehen hatte, das Gymnasium, dessen Namen ich noch nie gehört hatte, und und und! Wenn es wirklich immer noch ein Traum war, dann musste ich die verrückteste Fantasie überhaupt haben...

Während ich noch grübelte, fielen mir langsam die Augen zu und meine Gedanken schweiften ab, bis ich, ohne Zähne zu putzen, mich umzuziehen oder das Licht auszumachen, einfach einschlief und betete: Lass mich morgen wieder in meinem alten Körper aufwachen. Lass mich wieder Stegi sein und mir keine Sorgen darüber machen müssen, wieso mich alle zu verachten schienen...

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