35.

285 37 9
                                    

Tim

Auf der gesamten Zugfahrt grübelte ich vor mich hin. Vielleicht war ich nicht besser als Tobi, was meine Zweifel anging, aber ich konnte immer noch nicht ganz verstehen, dass Stegi sich das Leben genommen haben sollte. Irgendwas... irgendwas schien da nicht ganz zu passen und ich zermarterte mir angestrengt das Gehirn, doch... da war nichts. Ich kam nicht darauf, während das Gefühl wie ein hartnäckiges Kratzen knapp unter meiner Haut zurückblieb und mich ruhelos machte.

Was wollte es mir bloß sagen? Ein paar Mal wäre es mir beinahe schon gelungen, meinen Finger darauf zu legen, doch es entglitt mir, bevor ich es festhalten konnte. Das war doch zum Haare ausreißen! Ich seufzte, schüttelte meinen Kopf und konzentrierte mich stattdessen auf die Landschaft, die am Fenster links von mir vorbei flog. Ich musste einsehen, dass Stegi nicht mehr hier war. Ich würde ihn nicht sehen können oder wieder Körper mit ihm tauschen, egal wie sehr ich es mir wünschte oder mir noch weiter Gedanken machte. Es war vorbei. Hätte man mir das vor den acht Wochen noch gesagt, dann hätte ich wahrscheinlich gejubelt oder zumindest erleichtert aufgeatmet, aber jetzt machte es mich einfach nur unendlich traurig. Es waren die besten zwei Monate seit Jahren gewesen. Er hatte mir bei so vielen Sachen geholfen und war mir zuletzt sogar ein wirklich guter Freund geworden.

Ackerflächen. Weidewiesen. Wieder ein Acker. Ein schmaler Bachlauf tauchte hinter einer Baumgruppe auf, folgte den Gleisen für ein paar hundert Meter und verschwand abrupt wieder. Straßen mit unzähligen Autos in beide Richtungen. Ob Stegi damals auf der Hinfahrt dasselbe gesehen hatte? Wo hatte er wohl gesessen? Weiter hinten im Zug? Oder weiter vorne? Vielleicht sogar in diesem Abteil, möglicherweise auf dem selben Platz wie ich? Wieder war ich bei ihm angelangt und plötzlich sah ich eine glitzernde Träne in meinen Schoß fallen. H-huh? Ihr folgte eine weitere, bis ich wirklich realisierte, dass es meine waren. Dass meine Augen nass geworden waren und meine Schultern von leisen Schluchzern geschüttelt wurden. Ich konnte es nicht mehr länger ertragen! Ich vermisste Stegi! Wie gerne ich ihn auch nur einmal getroffen, mit ihm geredet und gescherzt und gelacht hätte! Ihn in meine Arme zu schließen, zu drücken und zu trösten um ihm zu zeigen, wie sehr er noch immer geliebt wurde. Und was er verlor, wenn er seinem Leben ein Ende setzte.

Der Zug ruckelte kurz und riss mich aus meinen Gedanken zurück in die Realität. Der nächste Halt war bereits Essen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich so lange gefahren war. Hastig rubbelte ich meine Wangen trocken, stand auf und trottete zur Tür. Der Bahnhof kam in Sicht und müde und etwas erschöpft überflog ich die vorbeiwischenden Gesichter der Menschen draußen, als mich plötzlich der Schlag traf. D-da draußen-! Da stand Stegi! Er war es eindeutig, seine blonden Locken begannen zwischen den Köpfen der anderen Leute entlang zu hüpfen, während er auf der Höhe des kleinen Sichtfensters mitjoggte, als wolle er gleich die Bahn betreten. Ich beobachtete ihn völlig erstarrt. Stegi! Er lebte! Aber wie war das möglich?!

Quälend langsam rollte der Zug aus und der Junge hatte mich noch nicht bemerkt. Doch, jetzt hob er erwartungsvoll den Kopf, gleich würde er mich erkennen! Wie er dann wohl reagierte? Mein Herz drohte vor lauter Vorfreude aus meiner Brust zu springen. Stegi...! Ich hatte ihn gefunden! Sein Vater und Tobi würden sich so sehr freuen, wenn er wohlbehalten wieder nach Hause zurück kam!!

Seine strahlend blauen Augen fanden endlich meine und sofort stoppte er in seinen Bewegungen. Eine Sekunde lang verharrten wir so eingefroren, dann drehte er sich um und... rannte davon! Eilig schlüpfte er durch eine Lücke zwischen seinen Hintermännern und war wie vom Erdboden verschluckt. Nein! Ich musste ihn dringend einholen, wenn er wieder verschwand, dann war alles umsonst gewesen! Verzweifelt hämmerte ich auf den Halteknopf, bis die Türen endlich auseinander glitten, und sprang mit einem weiten Satz auf den Bahnsteig hinaus mitten zwischen die Wartenden, die mir erschrocken Platz machten. Ich kämpfte mich durch die Masse und entdeckte die blonden Haare vor mir wieder. "Stegi! Stegi, warte!", schrie ich und legte noch einen Zahn zu, als mein Freund ebenfalls zu rennen anfing. Ich kam nicht näher an ihn heran, er war viel zu schnell! Panisch warf er mir einen Blick zu und schlug unerwartet einen Haken. Ich folgte ihm schlitternd und schnaufend, schon jetzt taten mir die Seiten weh. "Stegi! Stegi, ich bins...! Warte doch...!" Erkannte er mich nur nicht wieder? Hatte er Angst vor mir? Ein weiterer Haken und wir jagten auf eine Sackgasse zu, in der sich die Toilettenräume befanden. Stegi stolperte auf die Tür zu, riss die Klinke herunter und flüchtete ins Innere. Da drinnen musste er mir zuhören! Ich hatte ihm so vieles zu sagen und hoffentlich konnte ich ihn davon überzeugen, dass ich ihm nichts antun wollte und er unbedingt wieder nach Hause musste, weil sich alle Sorgen um ihn machten und glaubten, er wäre tot!

Aber die Toiletten waren völlig leer, als ich eintrat. Weder im Vorraum, noch in einer der Kabinen fand ich ihn, obwohl ich jede probehalber öffnete und alles ganz genau absuchte. Wo konnte er nur sein? Hier gab es doch eigentlich gar keinen Platz zum Verstecken! Wie war es möglich, dass er wie vom Erdboden verschluckt war?

Langsam dämmerte es mir, aber ich sträubte mich dagegen, es zu akzeptieren. Dass ich mir Stegi nur eingebildet hatte. Es tat so weh, aber es war die bittere Wahrheit. Er war tot und nichts konnte ihn wieder zurück bringen! Egal wie sehr ich es mir wünschte!

Mit schweren Schritten und einem seltsam pelzigen Geschmack im Mund schlurfte ich zurück zum Vorraum, näherte mich den Waschbecken und betrachtete meinen kläglichen Anblick in der Spiegelfront. Verweinte Augen, zerstörte Frisur, rot gefleckte Wangen. Einem spontanen Impuls folgend drückte ich auf einen der Wasserhähne, faltete meine Hände zu einer Schale, ließ Wasser hineinfließen und wusch mir notdürftig das Gesicht. Die Kälte tat gut und brachte mich ein wenig zur Ruhe. Gut, ich hatte mich getäuscht. Aber jetzt musste ich möglichst realistisch bleiben. Am besten ging ich erstmal nach Hause und versuchte dort, mich von allem abzulenken, was mit Stegi zutun hatte. So leid es mir auch tat und schwer es mir fallen würde, aber so konnte es nicht auf Dauer weitergehen! Ich musste mein eigenes Leben bestreiten und durfte nicht dauerhaft an der Vergangenheit festhalten. Sorry Stegi...

Ich seufzte leise und wiederholte die Prozedur. Gleich viel besser. Wenn ich jetzt noch meine Haare einigermaßen bändigen konnte, sollte ich auch ohne viele neugierige Blicke wieder aus dem Bahnhof rauskommen. Ich richtete mich auf, schaute in den Spiegel und fiel mit einem lauten Aufschrei taumelnd auf den gefliesten Boden. St-stegi! Genau da, direkt vor mir! Ich keuchte, mein Herz pochte viel zu schnell durch den Schock und ich begann zu zittern. Ich hatte ihn wieder gesehen, aber es war ganz anders als eben! Dieses Mal...!

Es kostete mich einiges an Mühe, um mich wieder halbwegs aufzurappeln. Mein ganzer Körper fühlte sich nämlich an wie Wackelpudding und mir war schwindelig. Doch die Neugier trieb mich an und wieder auf die Beine. Das gerade war keine Einbildung gewesen, o-oder?

Stegi schaute mich aus dem Spiegel heraus an, in seinen Augen lag der selbe Unglaube, den auch ich fühlte. Wie...? Zögerlich hob ich eine Hand, er tat es mir nach und zeitgleich winkten wir uns zu. Dann berührte ich meine Wange. Auch Stegis Finger stießen auf Widerstand, wir zuckten zusammen. Ich... ich war wieder er, aber... wie ging das? Die Körperwechsel hatten doch immer über Nacht stattgefunden und wir hatten den Rhythmus nicht bewusst beeinflussen können! Dementsprechend verwirrt war ich jetzt auch. Was hatte das zu bedeuten?

Eine Toilettenspülung wurde betätigt und hätte mich beinahe noch einmal aufschreien lassen. Ich hatte vor knapp einer Minute die Kabinen überprüft und sie waren doch alle leer gewesen! Aber entgegen aller Logik kam wirklich ein älterer Herr mit Schnauzbart aus einer der aufschwingenden Türen, lief an mir vorbei und wusch sich die Hände. Kurzzeitig vergaß ich sogar vollkommen, zu atmen. Doch gerade als ich mich fragte, ob ich vielleicht eine Art Geist war, den niemand sonst sehen konnte, drehte er sich zu mir um: "Alles okay bei dir, mein Kleiner?"

"J-ja, alles bestens!", quiekte ich in Stegis hoher Stimme. Mein Gegenüber sah nicht wirklich überzeugt aus, aber er stellte keine weiteren Fragen und ließ mich allein, nachdem er sich noch fertig abgetrocknet hatte. G-gut, die Leute konnten mich sehen. Beziehungsweise nicht mich, sondern vermutlich Stegi. Hieß das auch, dass ich wieder in der Vergangenheit war? Es würde jedenfalls den meisten Sinn machen!

Als ich meine Taschen durchsuchte, fand ich zwei Dinge: Ein Zugfahrticket und Stegis völlig intaktes Handy. Ein Knopfdruck gab mir die Gewissheit, die ich brauchte. Es war noch der selbe Tag zur exakt selben Uhrzeit, aber drei Jahre zuvor! Ich war wieder in Stegis Gegenwart! Konnte ich dann vielleicht seinen Suizid verhindern? War ich deswegen hier? Es schien ganz so. Und jetzt wo ich die Möglichkeit hatte, würde ich auch alles tun, damit es nicht dazu kommen musste! Ich würde Stegi nach Hause bringen, wo er vor sich selbst sicher war und mit seinem Vater reden konnte! Und heute in drei Jahren konnte ich ihn endlich treffen und ihm alles sagen, was ich ihm unbedingt hatte sagen wollen!

Dann fiel mein Blick auf das Ticket und erschrocken verglich ich es mit meiner Uhr. Es war die Rückfahrkarte nach Karlsruhe! Und der Zug ging schon in fünf Minuten!

____________________

Hyyyype für die letzten drei Kapitel! Tim hat noch eine Chance bekommen, um alles wieder ins Lot zu bringen!

The Story We Share (#Stexpert)Where stories live. Discover now