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Stegi

Es ging nach unten, ins Erdgeschoss und durch ein Esszimmer, in dem Karo mit aufgestützten Ellbogen und müde schief gelegtem Kopf Zeitung las. Als wir an ihr vorbei gingen, schnaubte sie nur laut, sie schaute nicht einmal zu uns auf. Schließlich hielt mein Bruder an. "Da drinnen", meinte er und biss sich auf der Unterlippe herum. Ich dankte ihm kurz und sah ihm nach, wie er sich zu Karo setzte, dann schloss ich mich im Bad ein und atmete erst einmal tief durch.

"Es ist alles gut", hauchte ich mir selbst zu, um mich zu beruhigen, obwohl mir der Bass in meiner Stimme noch immer kurze Schauder über den Rücken schickte. Eben auf dem Weg mit dem Jungen war mir nämlich ein Gedanke gekommen: Alles fühlte sich so seltsam real und komisch an, gar nicht wie meine Träume sonst! Was passierte hier? Mir wurde es langsam wirklich unheimlich... Probehalber wollte ich mir in den Arm kneifen, um mich so aufzuwecken, aber es funktionierte nicht. Ich wachte nicht auf und verzog kurz mein Gesicht, als heftiger Schmerz durch die Stelle unter meinen Fingern zuckte. Keine Chance, das brachte nichts... Vielleicht konnte ich aber mehr über meine aktuelle Situation herausfinden und so einen anderen Weg finden, um wieder aufzuwachen und alles in Ordnung zu bringen! Genau, ruhig bleiben und einfach weiter machen, als wäre nichts falsch und-.

Ich zuckte zusammen. Beim Hochschauen hatte ich den Spiegel über dem Spülbecken entdeckt und mich vor dem Anblick ziemlich erschrocken! Vorsichtig trippelte ich näher, hob eine Hand und tippte mir mehrmals hypnotisiert gegen meine Wange. Der mir unbekannte Typ gegenüber tat das selbe. D-das war... ich...?

Es hätte mich nicht so sehr überraschen dürfen, nachdem ich so sehr geschossen war, eine tiefere Stimmlage und auch einen anderen Namen bekommen hatte, aber irgendwie war ich bisher im Glauben gewesen, ich wäre wenigstens vom Aussehen her immer noch ich selbst, Stegi Penzel! Aber... das, was mir der Spiegel gerade zeigte, glich am ehesten meinem, ach nein, Tims kleinen Bruder. Die selben dunklen Haare, kräftigen Augenbrauen und schokoladenfarbene Iris, die jetzt vor Unglauben und leichter Panik stark geweitet war. Nur war ich größer und muskulöser als er und mit einem kantigeren Kinn. Gruselig... Plötzlich war das alles nicht mehr faszinierend, sondern seltsam bedrohlich. Was hatte das alles zu bedeuten?!

"Hey Stinker, bist du im Klo ersoffen oder was ist los? Beeil dich, ich muss mir noch die Zähne putzen!", rief Karo von draußen und hämmerte gegen die Badezimmertür. "A-alles gut! Eine Minute noch!", rief ich geistesgegenwärtig zurück, sprintete zur Toilette und beeilte mich wirklich, um Karo nicht noch wütender zu machen, als sie ohnehin zu sein schien. Sie wartete ungeduldig und quetschte sich einfach ohne ein Wort an mir vorbei, kaum dass ich die Tür wieder geöffnet hatte. Nicht einmal genügend Zeit für eine simple Frage blieb mir, obwohl ich nicht wusste, was ich sie hätte fragen sollen. Alles was mir spontan auf der Zunge lag, klang als würde ich eine Vollmeise haben! Und nach der Blamage von eben mit unserem kleinen Bruder wollte ich vorsichtiger sein und besser nachdenken, bevor ich handelte.

Ich merkte, wie er mich beim Frühstücken beobachtete, aber wir sprachen kein Wort miteinander. Nach seinem Namen wollte ich ihn nicht direkt fragen, den würde ich schon irgendwie anders herausfinden. Schweigend stopfte ich mir ein Brötchen in den Mund, stand dann schnell wieder auf und wollte zur Haustür, die ich vorhin schon direkt neben dem Treppenhaus erspäht hatte. Wenn ich schon jemand ganz anderes war, wohnte ich bestimmt auch nicht länger in Karlsruhe! Wo dann? Das musste ich herausfinden! Auf gut Glück schnappte ich mir eine der vielen Jacken von den Haken im Flur und ein Paar Schuhe und als von meinem Bruder, der leise an mir vorbei schlich, kein Protest kam, machte ich mich auf den Weg nach draußen.

Der Anblick meiner Umgebung verunsicherte mich stark. Klar, das hier war eindeutig nicht mein Zuhause und die Straße vor mir kam mir nicht bekannt vor, aber... mit ein wenig Fantasie konnte das noch irgendwo in Karlsruhe liegen... In einem der anderen Stadtteile oder in einem kleinen Bezirk am Rand. Es waren ähnliche Häuser, ähnlich viel Betrieb am Morgen und die Gerüche nach Autos, brackigem Regenwasser und Sonnenstrahlen waren mir sehr vertraut! Großstadtluft. Aber das musste nichts heißen. Ich war noch nie in Berlin gewesen, oder in München, und nur ein einziges Mal in Köln! Wer sagte mir, dass es nicht überall gleich aussah und roch und sich so anfühlte wie Zuhause? Plötzlich fühlte ich mich klitzeklein und verloren und unsicher schaute ich hoch zum Himmel. Klares, strahlendes Blau grüßte mich zurück. Was jetzt? Ich könnte eine Sehenswürdigkeit suchen gehen und so versuchen, herauszufinden, wo genau ich war. Oder ich fragte jemanden, der mir entgegen kam, ob er mir weiterhelfen konnte! Hier auf der offenen Straße würde mich hoffentlich niemand so besorgt oder verwundert anschauen wie mein kleiner Bruder. Dann los!

The Story We Share (#Stexpert)Where stories live. Discover now