Rote Lippen #24

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„Kommst du auch mit Alva?" Chysa sieht mich fragend an. „Ich komme nach, ich möchte noch Bücher für die Ferien ausleihen." Wimmle ich sie ab, entschlossen, noch mit Aries zu bleiben, warum auch immer er mich sprechen möchte.
Schneller als erwartet ist der gesamte Raum leer und ich stehe etwas unbeteiligt in der Mitte.

„Kommst du nach draußen?" Aries führt mich auf den hinteren Teil der Insel, welcher mit Bäumen von den neugierigen Blicken Außenstehenden schützt. Abwartend schaue ich zu ihm, wahre jedoch einen gewissen Abstand. Wir sind kaum noch zum Reden miteinander gekommen, nachdem Aries erst wieder einmal angefangen hat zu arbeiten.
Wie sich herausstellte, wusste niemand der Schüler den wirklichen Grund, warum er im Krankenhaus war, alle dachten einfach, es sein eine gefährliche Krankheit gewesen.
Ein bisschen erfüllt es mich mit Stolz, dass ich eine der wenigen war, welche die Wahrheit kennen.

„Jetzt steht bald deine erste Prüfung an. Wie fühlst du dich?"
Ich wickle den Saum meines Shirts um meine Finger.
„Bin etwas aufgeregt." Spiele ich meine umherschwirrenden Gefühle runter.
„Wirst du eine Präsentation mit deinen Dolchen zeigen?"
Ich nicke. „Ja, ich beherrsche diese besser als Schwert, Bogen oder Speer."
Wir haben viele der Waffen oberflächlich durchgenommen, uns jedoch am meisten mit unseren persönlichen Waffen, den Nethers beschäftigt.
„Das freut mich. Du bist sicher gut vorbereitet oder?"

„Ja, bin ich."

Es wird erneut still. Früher hätte mich diese Stille nicht gestört, aber jetzt macht sie mich ganz kribbelig.
„Aries, was soll das?" Spreche ich meine Gedanken aus.
Er lacht verlegen. „Ich wollte Fragen wie es dir so geht. Wir haben kaum noch gesprochen seit meiner Entlassung."
„Ja, aber warum jetzt plötzlich?"
Er kaut sich auf der Unterlippe herum. Ein Phänomen, welches ich bei ihm auch oft im Unterricht beobachte.

„Oder bist du etwa besorgt, dass ich es nicht schaffe?" Frage ich scherzhaft. Dieses wandelt sich in Erstaunen um, als er nicht darauf antwortet, nur sein Gesicht wird rosa.
„Du machst dir wirklich sorgen!" Rufe ich entzückt.
Er vergräbt seine Hände in den Hosentaschen. „Ja, ich mache mir Sorgen." Gesteht er. „Aber nicht nur deswegen."
Er lässt sich im Schneidersitz nieder und sofort setze ich mich neben ihn. Ein flattern in meiner Magengegend erinnert mich, wie nah ich ihm bin.

Er zögert. „Ich habe auch über uns nachgedacht." Beginnt er, schaut zu Boden. „Über diese... Gefühle. Was zwischen uns ist."
Ich betrachte sein Gesicht im Profil, seine Augen glitzern wässrig. Ich wage kaum, meine Gedanken zu dem Thema auszusprechen. Also redet er weiter.
„Wenn du in meiner Nähe bist, habe ich das Gefühl, du vernebelst mir meine Gedanken. Ich kann kaum klar denken, mein Herz schlägt schneller und mir wird ganz warm." Murmelt er. „Aber trotzdem..." Hilfesuchend schaut er auf.
Ich streiche über seine breiten Schultern. „Mir geht es genauso. Am Anfang konnte ich gar nichts mehr tun, mittlerweile, sind aber diese Gefühle nicht mehr so stark." Spreche ich meine Gedanken aus, welche bereits lange Zeit in meinem Kopf herumspuken.

Unvermittelt beugt er seinen Kopf vor.

Und unsere Lippen berühren sich.
Sanft und weich, erwidere ich seinen Kuss.

Obwohl ich mir diesen Moment so lange gewünscht habe, dass er mich küsst, mich nicht wegstößt, ist es ganz anders als erwartet.
Seine Zunge fährt über meine Lippen, ich gewähre ihm Einlass, nur um mich gleich darauf zurückzuziehen.
Ich spüre seine Hand an meinem Hinterkopf, welche mich zu sich ihm zieht, er unterbricht unseren Kuss nicht.
Ich habe in Büchern so viel über die Gefühle beim Küssen gelesen. Ich dachte, wenn es soweit ist, fühle ich, was ich empfinde, wenn ich in seiner Nähe bin, nur um ein Vielfaches verstärkt.

Doch das leichte Flattergefühl von eben verwandelt sich immer mehr in einen schweren Klumpen.
Ich erwartete so viel Gefühl, wenn ich ihm nahe bin.
Und doch, empfinde ich wenig, wenn nicht sogar nichts.

Gar nichts.

Aries löst unseren Kuss, in seinen Augen spiegelt sich Erleichterung, aber auch Überraschung.
Er räuspert sich. „Entschuldige. Ich wollte... ich wollte es nur endlich wissen."
Langsam nicke ich und fahre mir durch die Haare. Das merkwürdige Gefühl lässt nach und macht der vertrauten Aufregung Platz.
„Ich habe... nichts gefühlt." Flüstere ich.
„Ich auch nicht." Klärt er auf. „Ich dachte, wenn ich dich küsse, ist mir klar, was wir sind."
„Es ist klar." Ich kann nicht verhindern, dass Traurigkeit in meiner Stimme schwingt. Aries seufzt. „Ich weiss zwar noch immer nicht, was das zwischen uns ist, aber es ist..."

„Es ist keine Liebe." Stelle ich fest. 

„Ich denke, unsere Herkunft ist der einzige Grund, warum wir uns verbunden fühlen." Er nimmt meine Hand. „Selbst, wenn ich es mir wünschte, das mit uns wird niemals funktionieren."
Seine Worte sollten mich traurig stimmen.

Aber das tun sie nicht.

„Es wird niemals funktionieren." Wiederhole ich seinen Satz.
Es fühlt sich... befreiend an. Ich entziehe mich seiner Hand.

„Danke." Sage ich.

Ein Glücksgefühl durchströmt mich. All die verwirrenden Gefühle, der Herzschmerz vor einem halben Jahr, er fällt wie eine alte Haut von mir. Ich stehe auf, halte ihm meine Hand hin.
„Freunde?" Frage ich. Er ergreift meine Hand, eher als Symbol, denn aufstehen tut er alleine.
„Du kannst immer zu mir kommen, wenn du ein Problem hast." Erweitert er meine Worte.
„Gleichfalls."
Ob wir nur für den Bruchteil einer Sekunde oder Minutenlang einander gegenüberstehen, ohne ein Wort zu wechseln ist mir schleierhaft.
Als ich meinen Blick endlich losreißen kann und Aries sich zum Abflug entscheidet, halte ich ihn zurück.

„Danke." Wiederhole ich meine vorherigen Worte.
Und so absurd mir der Satz vorkommt, so ist es doch der einzige Satz, welcher so perfekt in diese Situation passt:

„Danke, dass du mich geküsst hast."

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Die Liebe ist eine komplizierte Sache -_-

White WingsWhere stories live. Discover now