Nichts ist für immer

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Lang war es her, dass Lilith einen so schönen Sonnenaufgang bestaunen konnte. In den letzten Tagen hatte es fast nur geregnet und gestürmt. Natürlich brauchten die Pflanzen auch mal Regen, gerade in einem heißen Sommer, wie diesem.

Die Sonne warf ihre Strahlen auf den Hügel, an dem Lilith gerne ihre Zeit verbrachte. Unter anderem, weil dies der erste Punkt war, den die Sonne jeden Morgen berührte. Daher war Lilith schon besonders früh auf den Beinen und erfreute sich an dem guten Wetter. Sie liebte nichts mehr, als blauen Himmel, warme Sonne und ein unbeschwertes Leben. Ein leichter Wind wehte über die Wiesen und bog die langen Grashalme sanft, als Lilith sich von den Ästen des Baumes hinabgleiten ließ und geschickt auf beiden Beinen landete. Im Sommer schaute sie sich öfter den Sonnenaufgang an, da es nicht so kalt war.

Jetzt bibberte Lilith in ihrem Mantel, der sie vor der kühlen Herbstluft schützen sollte.

Kein Vogel zwitscherte, auch nach weiteren stillen Minuten des Wartens nicht. Dort war nur der Wind und das Rascheln der bunten Blätter, die bald alle von ihrem Baum getrennt und sterben würden. Blätter hatten schon ein übles Schicksal. Es gab kaum Bäume, die nicht ihre Blätter verloren.

Für Lilith war der Herbst etwas besonderes: Die Welt wurde bunter, die Luft wurde kühler und die letzte Ernte wurde eingefahren. Von dort aus ging es auf direktem Wege auf ihre Hass-Jahreszeit zu: Den Winter.

Klar, man konnte keine Jahreszeit einer anderen vorziehen, doch was das Lilith an der Stelle egal. Der Winter war gefährlich, grau und viel zu lang. Eigentlich die unfairste Zeitverteilung. Warum war der Sommer nicht ein halbes Jahr und die dunkle Jahreszeit nur ein, zwei Monate lang?

"Wir müssen die Götter nicht verstehen. Es reicht, wenn wir ihnen dankbar sind", hatte Vater gesagt. Natürlich, seine Antwort auf Probleme oder Ungereimtheiten dieser Welt lautete immer: "Weil die Götter dieses und jenes getan hatten." Lilith konnte und wollte es nicht mehr hören. Kein Wunder, dass die Leute ihn 'Fanatiker' nannten. Gleichzeitig verfluchte Lilith sich selbst für den gemeinen Gedanken. Man sollte seinen eigenen Vater nicht Fanatiker nennen. Die anderen Kinder sahen das anders. Jedes Mal, wenn Lilith ihren Vater vor ihren Sprüchen verteidigte, kam das Gleiche: "Warum bist du auf seiner Seite? Dein Vater glaubt an Geister!"
Daraufhin brach für gewöhnlich das Gelächter unter ihnen aus. Lilith lachte nicht mit, sondern machte sich in solchen Situationen beschämt aus dem Staub.

Als der spektakuläre Sonnenaufgang sich dem Ende zuneigte, stand Lilith aus dem Gras auf und machte sich auf den Weg in den Wald. Wieder über das unschöne Thema nachzudenken, hatte ihr wieder die gesamte Laune verdorben. Jetzt wollte sie einfach nur alleine sein und nachdenken. Etwas weiter westlich von ihrem Heimatdorf erreichte sie die bunten Bäume, deren Blätter bereits den Boden bedeckten. Bis auf Liliths Schritte war es im Wald komplett still. Es war kein großer Wald, man konnte sich nicht darin verirren. Klein genug, um nicht verloren zu gehen, groß genug, um sich verstecken zu können. Irgendwann erreichte sie den Bach, der trotz der Jahreszeit fröhlich vor sich hin plätscherte.

Die Bilder aus ihrer frühen Kindheit schoben sich vor Liliths geistiges Auge. Früher hatte sie immer mit den anderen Kindern hier gebadet, wenn es warm genug war. Im Winter konnte man Eisstücke aus dem Flussbett nehmen und damit die tollsten Dinge bauen. Nun ja, die anderen Kinder in ihrem Alter machten das immer noch gerne. Sie spielten sorglos und dachten dabei nur an sich und ihre Beschäftigung. Lilith war einfach nicht begabt im Spielen, geschweige denn im Sprechen mit den anderen Kindern. Diese fanden sie komisch, wie Lilith gehört hatte. Was sollte sie dagegen tun? Sie konnte sich eben einfach nicht nur auf eine Sache konzentrieren, geschweige denn mit den anderen Kindern, die sie sowieso nicht mochten, spielen. Die Erwachsenen stellten sich das immer so einfach vor!

Melodie des ErwachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt