Liebe und Hass

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Den ganzen Nachmittag wartete Lilith darauf, dass Coran im Hof zu ihr stoßen würde. Vielleicht könnte sie den Jungen beobachten. Teddy sagte, dass sein Zimmerkamerad etwas für sie empfand. Es fühlte sich so offensichtlich und unrealistisch zugleich an. Sie wollte endlich wissen, was los war. War Lilith nun verliebt, oder doch nicht und überhaupt! Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr schwankte sie zwischen dem Ja und dem Nein. Wenn jemand sie gefragt hätte, ob sie sich Coran herbeiwünschte, hätte sie 'Natürlich' gesagt. Das war irgendwie das Problem. Ihre Hingabe zu diesem Jungen wurde mit der Zeit zu einer Art Normalheit.

Auch, als das Abendessen vorüberzog, tauchte er nicht auf. Wollte er Lilith nicht sehen, oder war wieder etwas dazwischengekommen? Er wollte doch für einige Zeit im Kloster bleiben, das hatte der Junge doch selbst gesagt.
Irgendwann gab Lilith es auf und verließ den Hof noch am frühen Abend. Auch wenn sie es nicht sein wollte, machte sich eine Deprimiertheit breit. Pen und Taric erzählte Lilith nichts über die Sache zwischen ihr und Coran. Mehr Wissende konnte sie nicht gebrauchen. Zuerst wollte sie selbst wissend sein.
Sie las noch ein wenig in dem Buch, was sie heute Vormittag angefangen hatte und las noch bis tief in die Nacht herein. In diesem Buch fand Lilith genug Ablenkung, um nicht dauernd an Dinge wie Liebe, Magie, Gefahren und verlorene Erinnerungen zu denken. Es half tatsächlich. Sogar so gut, dass die Sorgen um diese Themen gar nicht erst aufkamen, ehe Lilith erschöpft das Buch zur Seite legte, das Licht löschte und sich schlafen legte.
Die Nacht war holprig und sie schlief nicht gut. Mal war ihr heiß, mal kalt, mal hatte Lilith schreckliche Kopfschmerzen. Daher war sie am nächsten Morgen entsprechend nicht ausgeruht, als sie Ruby hinunter in die Innenstadt von Karthem begleitete. Da fürs Erste nicht gejagt werden durfte, mussten sie das Essen für heute einkaufen gehen. Am frühen Vormittag machten sie sich also an den Abstieg vom Kloster hinunter zur Stadt. Glücklicherweise war der Schnee sehr fest und griffig, was den Abstieg erleichterte. Die drei großen Türme des Schlosses von Karthem ragten über den Mädchen auf, als sie an der Kreuzung anstelle des Weges zum Schloss den Weg in Richtung der Bezirke einschlugen.

Sie durchquerten wie gehabt den Bäckereibezirk, sowie den Schmiedebezirk und bogen von Letzterem aus ab in den Westteil der Stadt. Hier patrouillierten deutlich weniger Wachen, als in den vorherigen Bereichen. Der Markt für Lebensmittel war größer, als die wenigen anderen in Karthem. Daher war er aber auch sehr gut besucht. Die Menschen liefen durcheinander, feilschten um Waren oder brüllten ihre Preise für die Menge. Lilith hätte vielleicht sogar etwas verstehen können, wenn alle nicht so durcheinander schreien würden. So war es nur ein Chaos aus eintausend Wörtern und dreimal so vielen Zahlen. Ruby schob sich mit Lilith im Schlepptau durch die Menge, stieß zur Not auch den einen oder anderen beiseite. Diese Art des Umgangs war beinahe schon so dreist und ungalant, dass es wieder amüsant war.

Wenn sie sich dann mal zu einem Stand durchgeschlagen hatten, war Warten angesagt. Sowas zog sich ungemein in die Länge, weil natürlich jeder mit dem Händler feilschen wollte, um möglichst wenig zahlen zu müssen. Jeder Stand dauerte also vor allem wegen der Wartezeit bis zu einer halben Stunde. Dementsprechend schlugen die verschiedenen Uhrtürme in der Stadt bereits zwölf, als sie wieder die Hauptstraße betraten. Sie war nicht weniger belebt, als vorhin und trotzdem war etwas anders. Es lag eine Spannung in der Luft und alle schienen in die gleiche Richtung zu laufen. Die Leute wirkten sehr aufgeregt, redeten wild und lautstark durcheinander.
"Es kann nicht sein!", rief ein mittelalter Mann irgendwem zu.
"Doch! Und das seit fünfzehn Jahren!", antwortete eine ältere Frau erstaunt.

Ruby schien nicht weniger verwirrt als Lilith und wollte gerade zu etwas ansetzen, wurde aber direkt unterbrochen.
"Ich möchte nachsehen, was da passiert", forderte Lilith. Es musste etwas Besonderes sein, was dort im Ostteil der Stadt passierte. Ruby warf ihr einen genervten Blick zu. "Und die Kartoffeln?"
"Bringe ich später nach, das ist ja nur das Abendessen", gab Lilith nur ungeduldig zurück.
"Wehe dir, du kommst nicht pünktlich", zischte ihre Mitbewohnerin, bevor sie ihren Sack mit Lebensmitteln schulterte und in die entgegengesetzte Richtung des Menschenstroms stapfte. Kaum, dass Ruby aus dem Sichtfeld war, lief Lilith auch schon los. Allerdings kam sie relativ schnell zum Stoppen, da die Menschen sich irgendwo zwischen Markt- und Handwerksbezirk stauten. Laut den Geräuschen standen weiter vorne einige Wachen, die versuchten, Ordnung in die Situation bringen. Leider war Lilith viel zu klein, um zu sehen, was anscheinend nur wenige Katzensprünge vor ihr passierte. Darüber hinaus war es keine Wonne, auf der matschigen Straße mit hunderten anderen Menschen zusammengezwängt zu sein.

Melodie des ErwachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt