Pinsel und Violinen

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Das ganze Kloster war außer sich, als Lilith und Ruby zur Mittagszeit zurückkamen. Als sie den Hof betraten, stürmte Pen hörbar durch die angesammelte Menschenmenge und rannte auf Lilith zu. Diese wusste gar nicht wie ihr geschah, als das Mädchen sie umarmte. "Ich bin so froh, dass dir..." Hörte sie nur, der Rest des Satzes verschwand im Stoff ihres Mantels. Da Lilith eigentlich nichts Anderes übrigblieb, umarmte sie das Mädchen zurück. Irgendwie tat es gut. Wie lange wurde sie nicht mehr umarmt? Eine richtige Umarmung hatte sie in Arborea, als sie sich von Yuro Horelio verabschiedet hatte.

Dieser Moment lag so weit zurück, dass es sie irgendwie traurig machte. Allerdings war für solche Gefühle gerade kein Platz, sodass der Gedanke an Arborea und Yuro genauso schnell verschwand, wie er gekommen war. Die Angriffe rund um Karthem hatten sich bereits herumgesprochen und so wurden sowohl Lilith als auch Ruby mit Fragen durchlöchert. Der Trubel schien sich auch nach einiger Zeit nicht zu legen und es kamen Fragen auf, wie: "Wird Karthem angegriffen?", oder "wird die Königin etwas unternehmen?"
Als sich immer mehr Leute diese Fragen stellten, wurde die Menge nicht nur unruhig, sie wirkte gar panisch. Daher schienen die anwesenden Meister sich in der Pflicht zu sehen, dem Einhalt zu gebieten. Meister Barth stellte sich direkt in die Menschenmenge, hob die Hände und rief: "Ruhe!"

Die Kinder und Jugendlichen verstummten abrupt und schauten zu dem alten Mann mit der dunklen Haut hinauf. Lilith tat dies ebenfalls.
"Karthem wird nicht angegriffen! Hier im Kloster seid ihr alle sicher! Ich will nichts mehr von Invasionen oder anderem Blödsinn hören, die Jäger werden trotzdem in den nächsten Wochen zur Sicherheit in der Stadt bleiben. Einkaufen dürfen sie auf dem Markt. Die Meister stellen das Geld dafür bereit." Er ließ den Blick schweifen. "Ab jetzt macht jeder seine Aufgaben und geht zu seinem Meister in den Unterricht. Das gilt für euch alle!"
Er drehte sich wieder um und gesellte sich zu den anderen Meistern, von denen bis auf Tyvel jeder anwesend war. Wo steckte er schon wieder? 

Die Ansage von Barth war mehr als wirksam. Auch wenn die anderen Novizen noch wild tuschelten, hörten sie auf ihn und fanden sich bei ihren Meistern ein. Der Raum leerte sich mit der Zeit und auch Ruby verschwand mit Barth in einem der anderen Räume des Klosters. Nun stand Lilith hier, allein. Es sollte also weitergehen, wie bisher. Aber wie sollte das klappen, wenn man am gleichen Tag noch um sein Leben gekämpft hatte? Vielleicht sollte sie sich ablenken. Das hatte Taric auch zu ihr gesagt, bevor er zu Meister Zelarus und seinen Schülern stapfte. Sie würde sich ablenken. Und das mit Sachen, die sie gerne machte. Vielleicht war es ein Fehler. Das war Lilith in diesem Moment jedoch egal. 

Einige Minuten später hielt sie bereits die Violine in den Händen und betrat erneut den Hof. Er war noch immer leer und die knisternden Feuer waren die einzigen Geräusche. Lilith setzte sich für eine Weile an das Feuer und zupfte etwas an dem Instrument herum. Unschlüssig, ob sie hier und jetzt spielen sollte. Eigentlich müsste man sie doch nicht hören können, außerhalb des Hofes. Immerhin hatte sie niemanden geweckt, als Coran das letzte Mal mit ihr hier im Hof war. Es war ein wahnsinnig schöner Moment und beim Gedanken daran erwischte sie sich, wie sie den Jungen herbeiwünschte. Sie wollte noch einmal mit ihm sprechen und mit ihm lachen. Vielleicht sogar mal über Belangloses, wie das Wetter oder die Launen der Meister. Nicht immer nur über Erinnerungen, Magie und Träume. Dies war der Punkt, an dem sie beschloss, es doch zu tun. 

So erhob Lilith sich und stellte sich wieder an die Stelle des Raumes, über der das Abzugloch war. Das fahle Licht schien herein und ab und zu verirrte sich eine Schneeflocke in den Hof. Es war ein wunderschöner Moment, wieder den Hall des Hofes zu hören, als sie einen Ton spielte. Dann kam es langsam wieder in ihr hoch. Energie strömte in ihre Muskeln und in ihren Geist, als Lilith zu spielen anfing. Sie wusste, was sie tat, ohne groß Pläne zu machen. Sie spielte Violine und zeitgleich zogen die verschiedenen Eindrücke und Bilder wieder durch ihren Kopf. Ihr Erwachen in dem seltsamen Hain, der erste Kontakt mit Yuro, der Abschied. Der Überfall, die schönen Momente mit Rabeas Tochter Alexa und auch der Moment, als Coran sie am Handgelenk gefasst hatte.

Melodie des ErwachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt