"Letzte gemeinsame Zeit"

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Ich weiß gar nicht, wie lange die Menschheit schon hinter diesen Mauern lebte. Ich kannte zumindestens nichts anderes, außer das Innere. Immer wieder stand ich vor dieser Sechzig Meter hohen Mauer und stellte mir vor, wie es dort außerhalb wohl aussehen möge. Der einzige Zeitpunkt mal einen kleinen Blick nach außen zu erhaschen war der, wenn die Soldaten des Aufklärungstrupps den Schutz der Mauern verließen, um die Gegend zu erkunden und gegen die Titanen zu kämpfen. Ich selber hatte noch nie einen gesehen. Oft habe ich meinen Vater gefragt, was diese Kreaturen sind, doch eine Antwort bekam ich darauf nie. Er hatte kaum Zeit für mich. Ich lebte mit ihm alleine in dem Bezirk Shiganshina, an der äußersten Mauer Maria. Er war Arzt und daher viel unterwegs. Die meiste Zeit passte jemand auf mich auf, da ich noch ziemlich jung war und ich noch nicht für mich alleine sorgen konnte. Ich verbrachte allerdings auch viel Zeit bei den Soldaten der Mauergarnision. Ich nervte sie immer damit, doch einmal das Tor für mich zu öffnen, damit ich mal hindurch gucken konnte. Doch nahmen sie mich natürlich nicht ernst.

Auch heute stand ich vor dem riesigen Steintor und starrte dieses an, in der Hoffnung es würde sich einfach in Luft auflösen.
"Hey Kira! Hör endlich auf dauernd vor diesem Tor zu stehen. Nur weil du es anstarrst, wird es sich auch nicht öffnen."
Rief mir einer der Soldaten zu, der gemütlich mit seinem Kameraden weiter Abseits saß. Grimmig drehte ich mich ruckartig zu ihm.
"Dann mach das Tor doch einfach mal auf!"
Ich bekam nur ein spöttisches Lachen als Antwort und er widmete sich dann wieder seinem Kartenspiel, das er vor sich ausgebreitet hatte und mit seinen Kollegen anfangen wollte zu spielen. Beleidigt und mit einem letzten Blick zum Tor, machte ich kehrt und begab mich dann auf den Weg nach Hause. Irgendwann eines Tages werde ich die Außenwelt sehen und wenn ich dafür dem Aufklärungstrupp beitreten muss.

Es war schon abends, als ich zu Hause ankam und mein Vater bereits auf mich wartete. Leise öffnete ich die Tür und versuchte unbemerkt hinein zu kommen, da ich schon wieder alleine unterwegs war. Mein Vater, dessen Name übrigens Grisha Jäger war, wartete bereits ungeduldig auf mich. Und als er die Tür hörte, kam er sofort auf mich zu.
"Kira!"
Leicht zuckte ich zusammen, als ich seine strenge Stimme wahrnahm und sah ihn mit einem entschuldigen Blick an.
"Wo hast du dich schon wieder die ganze Zeit rumgetrieben? Du weißt, dass du nicht alleine umher laufen sollst. Und vor allem, nicht so spät nach Hause kommen."
Er kam auf mich zu, kniete sich runter und umfasste meine Schultern.
"Ich möchte nicht, das dir etwas passiert. Ich weiß, das ich sehr selten zu Hause bin. Aber ich muss mich auf dich verlassen können. Du bist zwar mutig, doch noch viel zu jung. Bitte verspreche mir, dass das nicht wieder vorkommt."
Lange sah ich meinen Vater an, der meinem Blick stur standhielt, bis ich ihm nur mit einem leichten und unsicheren Nicken zu stimmte.
"Gut." Erhob er sich daraufhin wieder.
"Ich werde morgen sehr früh abreisen. Ich muss zu einem Patienten in die nächste Stadt. Ich werde versuchen am Abend wieder zurück zu sein. Sollte ich es nicht schaffen, werde ich die Nacht leider dort bleiben müssen. Du wirst natürlich nicht die Nacht alleine hier verbringen."
Traurig senkte ich meinen Blick, während mein Vater mich aus dem Augenwinkel besorgt ansah. Es tat ihm leid, das er so wenig Zeit für seine Tochter hatte. Doch wenn er für uns beide sorgen wollte, blieb ihm nichts anderes übrig. Ich konnte ihn ja sowieso nicht aufhalten, daher gab ich mich damit zufrieden und verbrachte den restlichen Abend noch mit ihm gemeinsam beim Essen, bis ich dann zu Bett ging und erst nach langem Wachliegen endlich in den Schlaf fand.

Am nächsten Tag machte er sich sehr früh auf den Weg, während er das ältere Ehepaar, das immer auf mich acht gegeben hatte, bat mich für den einen Tag bei sich aufzunehmen. Ein letztes Mal fiel ich zum Abschied meinem Vater um den Hals und hoffte das er so schnell wie möglich wieder nach Hause kommt.
Mit einem sanften Lächeln verabschiedete er sich und ging davon. Lange sah ich ihm noch hinterher, bis er komplett aus meinem Sichtfeld verschwand. Ich wusste nicht wieso ich dieses merkwürdige Gefühl hatte. Doch irgendwie schien es mir so, als wenn es ein Abschied für immer gewesen wäre. Nach dem Schließen der Tür, ging ich ohne weitere Worte, in das für mich vorgesehene Zimmer und setzte mich erstmal, mit herangezogenen Beinen, auf das Bett. So saß ich dort eine gefühlte Ewigkeit, gedankenverloren und starrte vor mich hin. Doch irgendwann erhob ich mich wieder und entschloss das Haus zu verlassen. Besser gesagt schlich ich mich hinaus, da ich eigentlich nicht alleine irgendwohin durfte. Doch Regeln sind da, um gebrochen zu werden und genau dies tat ich halt gerne. Mit ernstem Blick ging ich durch die Straßen. Mein Ziel? Das große Steintor der Mauer. Doch womit ich nicht gerechnet hatte, dass der Aufklärungstrupp an dem Tag wieder eine Expedition startete.
Ich drängte mich durch die Menschenmassen nach vorne an die Spitze, um ein Blick auf den Kommandanten und auf das sich langsam öffneten Tores erhaschen zu können. Als das Tor komplett geöffnet war, gab der Kommandant das Zeichen zum Losreiten. Soldaten der Mauergarnision, wo einige von denen ebenfalls am Rand standen, mussten mich davon abhalten, nicht zu nah an das Tor zu gehen, in welches ich am liebsten hindurch gegangen wäre. Enttäuscht, als das Tor wieder geschlossen war, befreite ich mich aus den Fängen der Soldaten und verließ den Ort. Ich verbrachte den Rest des Tages auf einer kleinen Wiese, unter einem Baum und blickte die ganze Zeit gen Himmel, zu dem Rand der Mauer hinauf. Als es langsam dunkel wurde, erhob ich mich und schlenderte langsam wieder Richtung nach Hause. Naja, nach Hause konnte man das ja nicht nennen. Denn ich blieb ja nur für eine Nacht dort. Ich ließ mir so viel Zeit, das es bereits dunkel war und nahm den kürzeren Weg durch die kleinen Seitengassen. Normalerweise war ich gar nicht so der Angsthase. Doch irgendwie beschlich mich ein merkwürdiges Gefühl und ich wurde in meinen Schritten immer unsicherer. Dies bestätigte sich dann auch noch, als ich hinter mir leise Schritte wahrnahm. Je mehr ich an Tempo zulegte, um so schnell wie möglich aus dieser Gasse zu kommen, umso schwerer und lauter wurden diese hinter mir. Ich traute mich nicht nach hinten zu schauen und fing irgendwann das Rennen an. Als ich mich dann ganz kurz traute, einen Blick über meine Schultern zu riskieren, stieß ich plötzlich gegen etwas Großes. Bevor mein Hintern Bekanntschaft mit dem Boden machen konnte, wurde ich grob am Arm gepackt und so auf den Füßen gehalten. Ich wollte noch schreien, doch verstummte ich, als man mir etwas auf Mund und Nase hielt und nach kürzester Zeit so benebelt war, das ich nicht mehr mitbekam, was um mich herum geschah und ich an dem Abend nicht mehr Heim kam.

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