twelve

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Ich weiss nicht genau, was ich mache, als ich bereits um halb sechs auf dem Weg zum Waisenhaus bin. Die ganze Nacht durch habe ich mich hin- und hergewälzt, in Gedanken immer bei meiner Mutter.

Was denkt sie sich? Hat sie eine Gehirnamputation hinter sich, oder warum ist sie plötzlich so dämlich? Bei dem Gedanken, am Abend wieder zurück ins Hotel zu gehen, wird mir schlecht. Vielleicht rufe ich Maik an, obwohl ich jetzt schon weiss, dass das eine sehr schlechte Idee ist.

Ich trete vorsichtig ins Haus. Von den Mitarbeitern ist noch niemand zu sehen, aber ich weiss, dass Ann ziemlich nahe von hier wohnt und immer ein paar Betreuerinnen hier übernachten, um auf die Babys aufzupassen. Ich möchte nicht arbeiten, und ich möchte auch niemandem begegnen.

Und dann kommt mir wohl die verrückteste und dümmste Idee, auf die ich je gekommen bin.

Ich sprinte ins Treppenhaus, in den obersten Stock und klopfe vorsichtig an der Zimmertür von Matilda. Hat sie nicht gesagt dass sie immer so früh auf ist? Ich hatte Recht. Nach wenigen Sekunden steht sie vor mir und lässt mich ohne ein Wort rein.

'Joel, was machst du schon so früh hier?' fragt sie mich und setzt sich auf ihr Bett.

'Du hast mir gesagt, du möchtest nach deinen Eltern suchen.' fange ich an.

'Ich habe dir gesagt dass es nicht möglich ist, also vergiss das' sagt sie und winkt ab.

'Was ist, wenn wir sie suchen? Jetzt. Wir setzen uns in den Zug oder so und fahren in den Süden.' Als ich meine Idee ausspreche, klingt es sogar noch verrückter als in meinen Gedanken, aber es ist der einzige Ausweg der mir auf die Schnelle eingefallen ist.

'Du bist völlig verrückt. Ich werde hier dann mit Hausarrest festsitzen bis ich achtzig bin' meint sie nur müde, aber ich habe in ihren Augen das Funkeln von Begeisterung gesehen, so wie am Samstag, und ich erkenne, dass es sie unglaublich reizt.

'Bist du dabei?' frage ich nur und laufe einen Schritt auf sie zu.

Und ohne viel zu überlegen sagt sie, sie kommt mit und ich fange an zu grinsen. 

'Pack deine Sachen, wir fahren nach Italien.' sage ich nur und sie leert ihren Rucksack aus, um ihn mit dem Wichtigsten zu füllen.

'Wer fährt den Wagen? Ihr seid beide noch nicht achtzehn.' erklingt plötzlich eine Stimme hinter mir und ich fahre erschrocken herum.

Liam steht im Türrahmen, immer noch im Pijama, aber einen sehr grossen Triumphblick aufgesetzt. Ich bin immernoch wie erstarrt.

'Was guckst du so Alter, es sind dünne Wände und mein Zimmer ist gleich gegenüber.' sagt er und zuckt mit den Schultern.

'Wir klauen kein Auto' meine ich nur.

'Solltet ihr aber. Hier ist mein Plan: Katy kommt jeden Morgen um viertel ab sechs hier mit ihrem kleinen Fiat an. Sie ist also relativ früh, und wenn wir Glück haben lässt sie den Autoschlüssel in ihrer Manteltasche. Den Mantel zieht sie im Eingangsbereich ab.'

'Du bist ein verrückter Stalker' höre ich mich sagen, muss aber sofort über seine Worte nachdenken. Warum nicht all in gehen? Warum nicht einmal im Leben etwas riskieren? Mit dieser Einstellung warten wir drei schliesslich in einem kleinen Abstellraum. Das gleiche Gefühl wie bei meiner Polizeiautoaktion kommt in mir auf, und als ich das Auto vorfahren höre, spüre ich förmlich, wie das Adrenalin durch meine Venen fliesst.

Kaum ist Katy in der Küche verschwunden, huschen wir zu ihrem Mantel, der wohl nur für den Style da ist und nicht, um vor dem scheusslichen Wetter zu schützen.

Wir haben Glück, der Schlüssel befindet sich wirklich in der Tasche.

Und so rennen wir so schnell wir können zum Auto und reissen die Türen auf.

'Wartet! Ist das nicht ihr Telefon?' ruft plötzlich Matilda und hält ein iPhone in die Luft, welches sich auf dem Rücksitz befand. Ertappt schaue ich zu Liam, aber da hören wir auch schon einen Schrei.

Katy rennt wie eine Gestörte auf ihr Auto zu und ruft etwas aus.

Auch Matilda hat sie inzwischen bemerkt, schnappt ihren Rucksack, reisst die Tür wieder auf und  flucht einmal laut auf, bevor sie ihrer Kollegin den Rucksack über die Birne zieht.

Das alles passiert so schnell, dass es mir nicht real vorkommt.
Mit grossen Augen schaue ich dem Geschehen zu, während Liam aufsteht und Matilda anschreit.

'Du kannst doch nicht einfach meine Freundin K.O schlagen du verrücktes Huhn!' Höre ich sein lautes Rufen als ich ebenfalls aussteige.

'Was machen wir jetzt?' frage ich in die Runde.

'Wir können sie nicht einfach hier liegen lassen. Ich hab sie ganz schön hart getroffen.' sagt Matilda. Liam hebt Katy vorsichtig vom Boden auf und trägt sie zum Wagen.

Schliesslich sitzt Liam am Steuer, ich auf dem Beifahrersitz und die zwei Mädchen auf der Rückbank.

Ich bin ganz schön überrascht dass sie so spontan sind, aber irgendwie verstehe ich es auch. Sie wollen ja schliesslich nicht im Waisenhaus versauern und haben nichts gegen ein kleines Abenteuer.

Wir machen ziemlich früh einen Stopp, nämlich bevor wir auf die Autobahn fahren. Liam steigt aus um zu tanken, ich laufe in den kleinen Supermarkt und belaste schon das erste Mal meine Kreditkarte. Ich kaufe Sandwichs für die Fahrt, ein paar Flaschen Wasser und noch gefrorene Bohnen, die Matilda Katy auf den Kopf halten kann. Diese liegt immer noch ausgenockt auf dem Rücksitz, und ich hoffe einfach es ist nicht etwas schlimmes.

Ich frage mich, ob es die richtige Entscheidung war, einfach Hals über Kopf abzuhauen, ohne ein wirkliches Ziel und Ende. Ich habe meine Mutter und meine Arbeit im Stich gelassen. Verzweifelt versuche ich, das schlechte Gewissen in die hintersten Ecken meines Kopfes zu verbannen. Ich habe mein Gründe. Was mir eher Sorgen bereitet, ist der ganze Hühnerhaufen mit dem ich losgefahren bin. Mit Katy haben wir immer ein Risiko dabei, da sie diesen Trip wahrscheinlich nicht gutheisst. Mit der Geschichte von Matildas Eltern können wir sie allerdings weichklopfen, oder Liam wickelt sie um seine Finger. Apropos Liam, der hat genau so wenig dabei wie ich und Katy. Die einzige, die einen Rucksack dabei hat, ist Matilda, und ich bezweifle dass es etwas anderes als die Fotos und ihre Ersatzklamotten sind. Vielleicht können wir noch genug Euros mit meiner Karte abheben, bevor Mom meine Karte sperrt und uns somit zum Umkehren zwingt. Es gibt so viel, das schiefgehen könnte, aber ich schiebe es beiseite und bezahle die ganzen Lebensmittel, die uns hoffentlich für die nächsten paar Fahrstunden ausreichen.

Als ich zurück zum Auto laufe, ist der Tank bereits voll, und Liam sitzt schon im Auto. Matilda lehnt sich rückwärts an den Wagen und ist etwas am Rauchen. Ich geselle mich zu ihr.

'Danke dass du das für mich machst. Es ist mir wirklich wichtig.' lächelt sie und hält mir die Zigarette hin.

Ich nehme sie an. 'Und was, wenn wir keinen Erfolg haben?'

'Ich frage mich eher, was wenn wir Erfolg haben?' sagt sie und schaut zur Strasse, wo die vielen Autos vorbeiflitzen.

'Ich habe keine Ahnung, aber egal was passiert, nach dieser Reise stecken wir richtig tief in der Scheisse' meine ich und ein kleines Schmunzeln schleicht sich auf meine Lippen. Es gibt jetzt sowieso kein Zurück mehr.

'Wir geben dann einfach dir die Schuld, dann kannst du noch ein paar mehr Sozialstunden absitzen' lacht sie und steigt wieder ins Auto.

'Was genau hast du in diesem Scheiss Rucksack Ma? Du hast sie ganz schön hart getroffen.' meint Liam und nimmt mir dankbar die gefrorenen Bohnen ab. Ich höre zum ersten Mal den Spitznamen von Matilda, und es erinnert mich an eine alte Schulfreundin, die im Kindergarten immer nach ihrer Mutter geschrien hat mit einem langgezogenen, verzweifelten „Ma".

'Sie ist erst seit ein paar Minuten K.O, also mach dir da mal keine Sorgen.' versuche ich ihn zu beruhigen, während Matilda das Holzschächtelchen mit den Fotos aus ihrem Rucksack zieht und es Liam vor die Nase hält. Er seufzt nur und startet den Wagen.

Und jetzt müssen wir nach vorne blicken. Es ist passiert, und das einzige was wir machen können, ist, unseren verrückten Plan in die Tat umzusetzen und nicht mehr in der Vergangenheit herumprügeln.

matilda Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt