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Auch wenn der nächste Tag im Gegensatz zu den Anderen der Woche ziemlich spät für mich startet, bin ich verdammt unausgeschlafen. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich gestern noch lange meine Habseligkeiten im Zimmer verpackt habe und alle wichtigen Sachen in den Koffer schmiss. Mit Ordnung habe ich es momentan nicht so.

Der Treffpunkt für den Start der Exkursion ist vor dem Waisenhaus, und meine Mom hat ausnahmsweise wieder einmal Zeit mich zu fahren, da ihre Freundin zum Brunch wegen Krämpfen abgesagt hat. Gut für mich.

Der Tag ist wieder einmal total grau, und mir scheint es so als würde sich dieses Regenwetter durch den ganzen Juni, wenn nicht sogar durch den ganzen Sommer ziehen. Hoffen tue ich das natürlich nicht, jeder Mensch muss im Sommer ein bisschen Sonne tanken, vor allem wenn man weiss, dass der Herbst noch trauriger aussehen wird. Am liebsten würde ich einfach aus diesem Regenland abhauen und in den Süden fahren. Aber es sieht so aus als würde aus diesem Plan diesen Sommer nichts werden. Vielleicht kann ich ja Mom überzeugen, in den Herbstferien irgendwo hinzufahren.

Vor dem Waisenhaus warten bereits einige, aber nicht alle Kinder kommen mit ins Museum. Bei den Kleineren hatte Ann wohl Angst, dass sie irgendetwas zu Schrott machen können. Und die ersten zwei Gruppen sind schon los. Ich begrüsse die Truppe kurz und laufe mit Katy Richtung Bushaltestelle, die anderen watscheln uns wie kleine Entenkinder hinterher.

Die Fahrt dauert nicht lange, und als wir ankommen wird mir bewusst warum diese Schule dem Haus finanziell unter die Arme greifen konnte. Das grösste Museum der Stadt gehört nämlich zum Schulareal, wie auch zwei Schwimmbecken und ein Tennisplatz. Wäre ich hier in der Nähe aufgewachsen, hätte ich meine Mutter wahrscheinlich angefleht um hier in die Schule zu können.

Wir steigen aus und ziehen sofort einige neugierige Blicke auf uns. Mit mir und Katy als Enteneltern schlendern wir im gemässigten Tempo zum Museum. Ich versuche, das Tempo ein bisschen zu verschnellern, da ich hinter mir eine gemusterte Pluderhose gesichtet habe, die immer näher kommt. Liam kommt sowas von in die Hölle, das kann ich jeder Person versichern die mir über den Weg läuft.

Mithilfe von Ann können wir eintreten, und sofort verteilen sich alle und ich habe so gar keinen Überblick mehr über die Gruppe, genau so wenig wie Katy, deren Gesicht förmlich nach Hilfe schreit. Aber wir haben ja die Jugendlichen zugeordnet bekommen, und die können sicher auf sich selber ein bisschen aufpassen. Die Jüngsten meiner Entenkinder sind beide zwölf und meiner Erfahrung nach eher zurückhaltend, also werden die wahrscheinlich keine Probleme machen.

Ich versuche sofort in die hinterste Ecke zu flüchten, da mir die Schranktante vorher gefährlich nahe stand. Vorsichtig schaue ich um die Ecke, und beachte die Kunst nichtmal, sondern laufe ziemlich gestresst rückwärts. Natürlich immer Ausschau haltend nach Creepy Clara.

Und dann, als wäre es Schicksal, was momentan ziemlich ironisch klingt, lande ich wiedermal auf dem Boden. Dieses Mal stürze ich auf die Person, die erschrocken aufschreit und irgendetwas flucht als ich förmlich auf sie falle.

'Kannst du nicht mal aufpassen?' ruft sie aus und erst jetzt bemerke ich, dass es sich dabei wiedermal um Matilda handelt.

'Wie stehts Chipmunk?' frage ich lässig als ich aufstehe. Ich ziehe sie an der Hand hoch.

'Warum rennst du mich immer um?' fragt sie gespielt böse und ich merke ihr an, dass sie versucht ihren Chipmunkblick von gestern nicht zu wiederholen. Sie scheitert kläglich.

'Das erste mal hast du mich ganz klar umgerannt' meine ich und verschränkte meine Arme vor der Brust.

'Ich bin die, die hier nichts hört okay? Erste Regel: Niemals den Behinderten die Schuld geben' zwinkert sie und ich bin über ihren Ausdruck überrascht. Taub bedeutet für mich nicht behindert, und ich würde es auch niemals wagen sie so zu nennen. Schätze das darf auch nur sie.

'Gewonnen' gebe ich zu, und ihr Blick schweift ab zum Gemälde auf unserer Seite. Ihre Augen funkeln als sie die verschiedenen Farben und Maltechniken inspiziert, und ich stehe einfach nur dumm wie ein Ofen neben ihr.

Als sie ihren Kopf wieder zu mir dreht, frage ich sie ob sie die Wand in ihrem Zimmer gestrichen hat.

'Ja, es war schon immer irgendwie ein Hobby von mir.'  erklärt sie und ich gebe ihr ein ernstgemeintes Kompliment dafür. Als mein Blick auf die Malerei neben uns fällt, wirft sie mit irgendwelchen Fachbegriffen um sich und sagt etwas von Komplementärfarben. Ich verstehe nur Bahnhof, aber tue ihr zuliebe so als würde es mich total interessieren.

Irgendwie ist es ja ganz schön süß, wie aufgeregt sie wird und wie ihre Augen aufblitzen wenn sie über die Kunst spricht mit ihrer klaren Stimme. Mir fällt auf, das jedes Wort dass sie spricht sich ganz klar von den anderen abgrenzt, aber wenn sie etwas erzählt wirkt es nicht stockend, sondern ungewöhnlich fliessend. Ich bewundere sie, wie sie damit umgeht. Ich weiss nicht ob ich das könnte. Naja, ich müsste wohl, aber ich denke ich könnte mein Leben nicht so leben wie sie es tut.

'Weisst du, manchmal möchte ich wieder die Musik hören. Aber Malerei ist auch eine Art von Kunst, und seitdem ich die Musik nicht mehr habe, finde ich immer mehr Gefallen an dieser Form der Kunst' sagt sie und starrt immer noch auf das Gemälde. Es ist zugegeben wirklich schön, eine ferne Stadt, und in der Nähe Boote in der Nacht.  Dazwischen einfach nur das Meer, das die blinkenden Lichter der Stadt reflektiert. Es strahlt eine unglaubliche Tiefe aus und ich frage mich wie der Maler das hinbekommen hat.

'Es gefällt mir' sage ich ihr als sie mich erwartungsvoll anschaut.

'Wusstest du, dass es eigentlich eine Fotografie war, die in Italien aufgenommen wurde? Der Maler wollte aber seiner Liebste nicht einfach eine alte, kleine Fotografie schenken und hat ihr dann dieses Bild gemalt von seiner Reise nach Italien. Eigentlich durften sie nicht zusammen sein, denn ihre Familie wollte sie nicht mit einem Maler verheiraten. Er ging zurück in seine Heimat nach Italien und wollte sie mit diesem Gemälde überraschen weil sie noch nie in Italien war. Aber als er bei ihr anklopfte hat sie sich bereits das Leben genommen, weil sie ohne ihren Liebsten nicht sein konnte' erzählt sie und vielleicht war es eine kleine Träne die in ihren Augen zu sehen war, vielleicht war es aber auch nur eine Einbildung.

'Ein bisschen wie Romeo und Julia' meine ich und sie nickt.

'Fast schon ein bisschen trauriger.' lächelt sie ruhig, und wir wenden unsere Blicke wieder zum Gemälde. Vorsichtig drehe ich meinen Blick zu ihr und schaue sie an. Sie ist ein ganzes Stück kleiner als ich und ich nehme die kleinen Sommersprossen auf der Nase wahr. Heute ist sie sogar ein wenig geschminkt glaube ich. Auf jeden Fall schimmern ihre Lippen in einem zarten rosa, und sie hat wie immer helle und farbige Kleidung an. Ihr Blick ist so konzentriert auf das Bild gerichtet dass sie meinen gar nicht bemerkt. Hoffe ich mal.

Ich bemerke die anderen Leute erst, als Liam mir seinen Ellenbogen in den Bauch boxt so wie ich ihm gestern und jaule auf. Zum Glück hat Matilda das nicht gehört. Liam grinst mir zu und auch Matilda hat inzwischen die anderen Personen bemerkt und bewegt sich auf Katy zu.

Und ab diesem Moment an war irgendetwas anders. Ab diesem Moment an hatten wir, Matilda und ich einen Moment, der so ruhig und fein war wie ein Stück Seidenpapier, und so zerbrechlich wie eine Schneekugel, aber wir hatten einen Moment.

matilda Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt