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Ein dunkelbrauner Schopf kommt zum Vorschein.
,Hast du schon Bekanntschaft mit Matilda gemacht?' fragt mich Liam und nimmt wieder einen Zug seiner Kippe.

Das taube Mädchen. Ich frage mich, warum sie so gut Lippenlesen kann. Das ist echt cool.
‚Ich hatte schon die Ehre' giftet sie und setzt sich neben ihn. Das kann ja heiter werden.
Die wird mich sicher noch bei Kirstin verpfeifen.

Sie schnappt sich die Kippe aus Liams dünnen Fingern und zieht das Gift tief in ihre Lunge. Hmm, vielleicht wird sie es doch geheimhalten.

Ich tippe ihr vorsichtig auf die Schulter: 'Sag mal, du hörst dich gar nicht taub an, warum das?'

Sie seufzt. Allem Anschein nach bekommt sie diese Frage öfters gestellt, aber zurecht. Wenn ich sie einfach so als Aussenstehender reden hören würde, hätte ich keinen blassen Schimmer dass sie nichts hören kann. Ihre Stimme klingt sogar klarer als die, der meisten Menschen.

'Ich war nicht immer taub. Bis ich zwölf war, war ich Teil der hörenden Welt. Das bedeutet meine Muskeln erinnern sich sozusagen daran, wie ich Wörter ausspreche. Aber hinter meiner jetzigen Stimme steckt viel Arbeit und Zeitaufwand.' antwortet sie mir und starrt über die Häuser hinweg.

Erst jetzt wird mir bewusst, wie schön die Aussicht eigentlich ist. Die Hauptstrasse ist weiter weg, also höre ich nur ab und zu ein Auto vorbeifahren. Die vielen Häuser sind von einer dunkelgrünen Waldschicht umrundet, und weiter hinten sehe ich Berge.

Liam zermalmt den Rest der Kippe mit seiner Schuhsohle und kickt sie vom Dach. Sie landet in einer der klapprigen Regegenrinnen, wo das Wasser durchfliesst. Dann steht er auf, klopft sich die Oberschenkel ab und verschwindet mit einem kurzen ‚Adios Amigos'.

Ich überlege, auch zu gehen, aber es wäre vielleicht ein wenig asozial gegenüber ihr. Ich wende vorsichtig meinen Blick von der Aussicht zu Matilda. Ihre dunklen Haare hat sie in einen kurzen Bob geschnitten, und ihre Augen haben ziemlich genau die selbe dunkelbraune, tiefe Farbe. Ausserdem zieren kleine Sommersprossen ihren Nasenrücken.

Sie holt ein Päckchen aus ihrer Arschtasche und zündet sich die nächste Zigarette an.

‚Kerl, hör auf zu starren.' murmelt sie und grinst.
‚Kerl?' frage ich nach. So hat mich noch nie jemand genannt. Sie reagiert nicht, ihr Blick ist immer noch in die Weite gerichtet.

‚Warum bist du eigentlich hier?' fragt sie mich und ich fühle mich sofort ein wenig unbehagen. Aber sie scheint vertrauenswürdig zu sein, so wie sie rauchend neben mir auf einem Dach hockt.

‚Ich hab eine Wette verloren gegen einen Freund.  Ich war völlig high und musste auf ein Polizeiauto ACAB sprayen.' erzähle ich und warte gespannt ihre Reaktion ab.

Sie lacht laut und entblösst ihre weissen Beisserchen.
‚Dein Freund ist ein ziemlich grosses Arschloch.' meint sie dann und hält mir die Zigarette hin. Ich nehme sie an.

Nachdem wir uns vom Dach geschlichen haben und ich mindestens acht vollgepisste Bettlaken ausgewechselt habe, liessen sie mich gehen.

Meine Mutter wartet schon vor dem Haus. Gestresst blickt sie auf ihre Uhr und begrüsst mich mit einem kleinen Kuss auf die Wange. Sie erzählt mir von ihrem Arbeitstag, aber mich interessiert das gerade wirklich wenig. Ich lehne meinen Kopf an die Lederlehne hinter mir und schliesse die Augen.

So würde jetzt also mein Leben für die nächsten paar Wochen aussehen. Verdammt, ich bin siebzehn und es ist Sommer. Eigentlich müsste ich jetzt wie alle anderen wild Party machen oder mit Freunden ans Meer fahren. Dank Maik stecke ich jetzt aber in diesem kleinen Kaff fest.

Maik und ich kennen uns seit dem Kindergarten, und wir waren schon seit dem ersten Tag an beste Freunde. Als wir älter wurden, fingen wir beide an uns zu verändern. Wir kamen beide in die falschen Viertel, viele Drogen kamen ins Spiel, noch mehr Alkohol.

Ein Jahr lang hatten wir fast keinen Kontakt mehr. Meine Mutter hat mich irgendwie ins Gymnasium gestopft, Maik sollte eigentlich irgendwo arbeiten. Das bezweifle ich aber.

'Joel?' reisst mich meine Mutter aus den Gedanken, worauf ich unsanft aufschrecke. 'Ich habe dich gefragt ob du kurz in den Supermarkt für mich gehen willst um Salat zu holen.'

Ich nicke, nehme ihr die fünfzig Euro aus der Hand und reisse die Autotür auf. Die graue Kapuze findet ihren Weg über meinen Schädel und ich vergrabe meine Hände in den grossen Taschen.

Im Supermarkt ist es angenehm kühl, die Klimaanlagen geben jedoch ein nerviges Surren von sich.
Ich laufe zur Obsttheke, die genau neben dem Frischfleisch liegt. Der Gestank von Fisch erdrückt mich fast. Der Supermarkt ist ungewöhnlich voll, dafür dass es so spät ist. Eine schwangere Frau mit einem schreienden Kleinkind schneidet mir den Weg ab.

Dann suche ich den Eisbergsalat, der meine Mutter will und laufe schnurstracks zur Kasse. Lili, eine Klassenkameradin von mir arbeitet in den Ferien in diesem Supermarkt.
Auch so ein Opfer wie ich. Arbeit in den Ferien. Obwohl sie es wie ich sie kenne das freiwillig macht.

'Hi Joel, wie läufts?' Fragt sie und scannt den Salat mit einem Piepen ab. 'Ich habe gehört Stephen ist wieder in der Stadt, habt ihr wieder zueinander gefunden?' sagt sie lächelnd, während dem ich ihr das Geld reiche.

Fuck. Ohne mich zu verabschieden oder das Wechselgeld entgegenzunehmen stosse ich die Tür auf und renne zum Auto.

‚Alles ok bei dir?' fragt meine Mutter, als ich keuchend im Auto auftauche.

‚Stephen ist wieder in der Stadt.' wiederhole ich die Worte von Lili, und ihre Gesichtszüge werden sofort hart. Mit zittrigen Händen startet sie das Auto und braust los.

Die ganze Fahrt über verliert keiner von uns ein Wort über ihn. Das Schweigen ist fast nicht auszuhalten, und zu allem Übel fängt auch noch der Himmel an zu flennen. Ich starre aus dem Fenster, und plötzlich fühle ich mich wieder wie der kleine verängstigte Junge, der auf dem Trampolin im Garten sass und seinem Vater zusah, wie seine Faust einen Platz im Gesicht seiner Mutter fand.

Ich erinnerte mich daran, wie meine Mutter mich mit einem blau - violetten Auge unter meiner dunkelgrauen Decke zudeckte, und mir über die pulsierende, rote Kinderwange strich. Es war die erste Nacht bei der er an mir Hand angelegt hatte. Und in diesem Moment wusste ich, es würde die letzte Nacht werden in der wir alle zusammen unter einem Dach übernachteten. Und ich hatte absolut recht.

Er folgte uns zwar über die Jahre immer auf Schritt und Tritt, und da wir die Stadt nicht verliessen war es ein leichtes für ihn.
Unser jetztiges Haus befindet sich aber am Stadtrand, und beim letzten Umzug vor zwei Jahren haben wir den Nachnamen zum Mädchennamen meiner Mutter gewechselt.

Meine Mutter parkt das Auto vor unserer Garage. Ich presse den Salat an meine Brust und renne durch den matschigen Rasen, der Regen durchnässt meinen Kapuzenpullover.

Wir stehen vor der Haustür, pitschnass, und zu allem Übel habe ich auch noch den Salat aus Versehen aufgerissen.

Ich stopfe den Schlüssel in die Tür und drehe, aber nicht wie sonst immer ertönt das kleine Klicken.
Die Tür war vorher schon offen.

Ich trete hinein, das Licht im Wohnzimmer ist an. Ich schaue meine Mutter an.

Er hat uns wieder gefunden.


Jaja, ich weiss, Donnerstag ist mein Upload-Tag, aber ich habe hier nicht immer Wlan. (Schlechteste Ausrede ever :D )
Ich bitte euch, mich zu kritisieren und mich auf  Tippfehler aufmerksam zu machen,. Wenn es euch gefällt könnt ihr ja auch einen Vote dalassen. :)

matilda Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt