Ein lästerlicher Ketzer

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Blut schwamm in seinem Mund, metallisch und dick. Dumpfer Schmerz pochte in einem Körper, der nicht sein eigener zu sein schien. Ganz entfernt hörte er eine Stimme, die seinen Namen sagte.

»Slar.« Eine süße Stimme. Sie musste zu den warmen Händen an seinen Schläfen gehören.

Onex, dachte er und schlug die Augen auf. Onex' besorgtes Gesicht erschien über ihm. Hinter ihm ragte der leere Sockel auf und der Gestank des Kanals wehte über die Planken.

Onex lächelte. Wie immer fuhr der Anblick direkt in Slars Brust. Wie immer ließ er sich nichts anmerken. Mühevoll richtete er sich auf.

»Bleib liegen! Ich bin noch nicht fertig.« Onex sah ihn tadelnd an. Er hob die Hände, um ihm zu zeigen, dass er ihn weiter heilen musste. Slar schüttelte den Kopf. Sehr vorsichtig.

»Es ist nichts«, sagte er und stellte fest, dass es beinahe stimmte. Sein Kopf schmerzte, aber die Blutung in seinem Mund war minimal. Vermutlich hatte er sich auf die Zunge gebissen, als ... Was genau war geschehen?

Er sah sich um. Raiden und Fred, zwei Wächter, standen ebenfalls im Boot und richteten den Samtbezug des Sockels wieder her. Der Priester wartete mit der Urne in der Hand. Er wirkte noch erzürnter als bei seinen Reden. Als würde die Galle in ihm hochkochen und als müsste er den Mund geschlossen halten, um kein Feuer zu speien. Der Rest der Prozession stand mit roten Gesichtern auf dem Bürgersteig. Die meisten von ihnen keuchten. Sie mussten hergerannt sein, über den Umweg der Stadtmauer.

Tiefe Beschämung überkam Slar. Er hatte es nicht geschafft, den Dieb zu überwältigen. Nein, er hatte sich ausschalten lassen wie ein blutiger Anfänger.

»Du hast ihn verjagt«, sagte Onex freudestrahlend. »Nicht wahr? Als wir das Boot gefunden haben, war er weg und die Urne war noch da. Ich hatte Angst um dich, weil du so reglos dalagst, aber du musst ihn verjagt haben.«

Einen Moment lang überlegte Slar, zu bejahen. Aber die Göttin strafte auch Lügner.

»Er hat mich überwältigt«, sagte er. Der lästerliche Ketzer. Der dümmlich grinsende Mund des Hundesohnes erschien in seiner Erinnerung. »Ich weiß nicht, wie. Meine Erinnerung ist ungenau.«

»Das liegt daran, dass du die Heilung unterbrochen hast.« Onex sah ihn böse an. Sein rundes Gesicht verzog sich. »Lass mich bitte weitermachen.«

»Was ist geschehen?« Eine schneidende Stimme. Morgan Bilek, die Wächter-Generälin sah auf Slar herab. Heiße Scham füllte seinen Mund, als er sprach.

»Wir haben gekämpft. Er hat mich niedergeschlagen. Ich weiß nicht, wie ...« Eine Erinnerung schälte sich aus seinem pochenden Schädel: Er hatte den Kerl unter sich, im Skorpionsgriff und dann ... Der hatte ihn gar nicht besiegt! Der Mistkerl hatte nur Glück gehabt, dass die Urne auf Slars Kopf gefallen war! Er hasste ihn von Minute zu Minute mehr. »Ich werde ihn finden«, grollte er.

»Das ist nicht nötig.« Morgan nickte zu dem Sockel hinüber. »Die Asche des Ratsherren ist noch da und es wurde nichts gestohlen.«

Soeben richtete der Priester sie auf dem Podest her. Seine Kutte tropfte immer noch.

Ich werde ihn finden, dachte Slar. Der Ketzer hatte die Göttin als dreiarmige Hure bezeichnet und ihn vor Onex' Augen ins Wasser befördert wie einen blutigen Anfänger. Das würde er büßen.

Auf dem Bürgersteig erklang eine wütende Stimme. Einer der Angehörigen redete auf die Wächter ein. Ein blasser junger Mann, dessen Haare nach der neuesten Mode zu einem Pferdeschwanz gebunden und an den Seiten abrasiert waren. Seine Kleider deuteten auf großen Wohlstand hin. Unzählige Goldfäden rannen durch die lindgrüne Seide.

»Es ist ein Skandal«, wetterte der Junge. »Das Andenken meines Großvaters wurde geschändet. Bilek!«

Die Wächter-Generälin wandte sich dem Jungen zu. »Herr Dostal?«

»Was gedenken Sie zu unternehmen? Der Dieb muss gefunden werden!«

»Junger Herr«, begann die Generälin, wurde aber unterbrochen. Der Vater des jungen Herren legte eine Hand auf dessen Schulter. Der ältere Dostal war fast einen Kopf größer als sein Sohn und so ehrfurchtgebietend, dass alle Umstehenden zurückwichen. Kein Wunder, dass er es bis zum obersten Ratsherrn gebracht hatte. Leise redete er auf seinen Jungen ein. Der presste die Lippen aufeinander, nickte aber schließlich.

»Es wird keine Verfolgung geben.« Die Stimme des Alten trug weit. »Lasst uns diesen unschönen Vorfall vergessen und das Andenken an meinen Onkel nicht trüben.«

Trotz der milden Worte war dies ein Befehl. Eindeutig. Die herrische Miene des Alten ließ keine Widerrede zu. Slar ballte die Fäuste, schwieg aber. Die Dostal waren große Mäzene des Tempels, so viel hatte er in seiner kurzen Zeit in der Halbmondstadt schon verstanden. Es wäre unklug, sie zu verärgern.

Aber niemand konnte ihm vorschreiben, was er in seiner Freizeit zu tun hatte. Leider ließ der Tempel ihnen nicht viel Freizeit. Fraglich, was er in der halben Stunde nach der Mittagsmesse ausrichten konnte. Vielleicht würde das Studium ihm mehr Möglichkeiten bieten, den Ketzer zu finden.

»Ich bin aufgeregt«, gab Onex zu und blickte aus dem schmalen Schlitz in ihrem Zimmer, der das einzige Fenster darstellte. »In einer Woche geht es los und ich bin schon so aufgeregt, als wäre es morgen.«

Slar hätte ihn gern ermutigt, aber er war furchtbar darin. »Es wird gut gehen«, sagte er viel zu spät. »Es wird sicher nicht schwerer als die Vorbereitungskurse.«

»Ich war der Schlechteste in den Vorbereitungskursen.« Onex lächelte schief. »Meinst du, ich werde auch der Schlechteste an der Akademie?«

»Bestimmt nicht«, sagte Slar. »Wenn es dich beruhigt, bin ich einfach noch schlechter als du.«

Onex lachte. Er war der einzige Mensch, den Slar zum Lachen bringen konnte. Die meisten fürchteten sich vor ihm. Selbst, als sie noch Knaben gewesen waren, hatte er diese Wirkung auf die anderen Kinder gehabt, dank seiner Größe und seines Blutes. Nur Onex hatte sich immer wieder um ihn bemüht.

»Vielleicht habe ich nur Angst vor den Städtern«, sagte Onex. Er ließ sich auf die schmale Holzpritsche plumpsen, die gegenüber von Slars an der Wand hing. »Sie sind so anders. So ... missbilligend. Vorhin habe ich versucht, zu erklären, dass es nicht deine Schuld war, dass der Dieb entkommen ist. Der junge Herr Dostal hat mich nur angesehen und ich habe mich nicht getraut, weiterzureden. Als wären mir alle Worte, die ich kenne, verlorengegangen.«

»Ich bin bei dir«, sagte Slar. »Gemeinsam schaffen wir das. Wie immer.«

»Ja.« Onex nickte und richtete sich ein wenig auf. »Ich schätze, du hast recht. Mit dir an meiner Seite traut sich wenigstens niemand, mich zu verprügeln.«

»Wer sollte dich verprügeln wollen?«

»Ich weiß nicht. Der Priester vielleicht? Als ich ihm angeboten habe, meine Robe anzuziehen, weil seine nass war, hat er mich angesehen, als wollte er mir die Nase brechen.«

Onex war einfach zu hilfsbereit. So sehr, dass er manchen damit auf die Nerven ging. Aber nicht Slar. Niemals.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Wirklich. Es wird alles gut gehen.«

»Versprichst du es?«

»Ich schwöre es.«

Bei meinem Leben, dachte Slar.

Seelengefährten - RidleyWhere stories live. Discover now