Sechsundzwanzig - Fey

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Es überraschte mich, dass Silas praktisch nichts über Homosexualität in der übernatürlichen Gemeinschaft wusste. Er war doch lycaner-spezifisch unterrichtet worden und vorallem kannte er die Gesetze von klein auf... So unwissend hätte ich ihn echt nicht eingeschätzt. Ich parkte vor Reykjas Haus und bestätigte die Klingel. Nur wenige Sekunden später riss sie schwungvoll die Tür auf. Sie sah aus wie eine ganz gewöhnliche junge Frau. Sie trug Jeans und einen Wollpulli mit gestrickten Pferden. Ihre hellen Haare trug sie im Pferdeschwanz. Nur ihre auffällig grünen Augen wiesen auf übernatürliche Identität hin. Sie strahlte mich an. "Fey, schön, dich zu sehen", begrüßte sie mich und verzichtete dankenswerterweise auf eine Umarmung. "Und du musst Silas sein", richtete sie das Wort an meinen Partner. Er nickte zögerlich. "Na dann kommt mal rein. Ich habe Tee gemacht. Oder wollt ihr lieber Kaffee?", fragte sie uns."Kaffee wäre nett", antwortete Silas und ich nickte zustimmend. Reykja führte uns in ihre Küche und wedelte mit den Händen. Wie aus dem Nichts standen zwei dampfende Kaffeetassen vor uns.

"Ich habe mich gefreut, als Shepherd mich angerufen hat. Wie geht's dir, Fey?", wollte sie neugierig wissen. Ich zuckte nur die Schultern. Gerade jetzt ging es mir vergleichsweise gut. Ich war wach und in einem sicheren Gebäude, umgeben von Personen, die ich halbwegs einschätzen konnte. Reykja schien zu verstehen."Du erinnerst mich an deinen Vater, als er in deinem Alter war... Du siehst ihm echt ähnlich", stellte sie stattdessen an Silas gewandt fest. "Du kennst meinen Vater ? Aber du bist doch viel zu...", begann er. Reykja lachte. "Zu jung? Schätzchen, ich bin 85, ich sehe einfach nur seit Jahrzehnten aus wie 27. Will und ich sind alte Freunde", erklärte sie. Silas wirkte bei dem Spitznamen seines Vaters ziemlich irritiert. Lycaner hatten eine Lebenserwartung von etwa 150 Jahren. Ab dem 20.Lebensjahr alterten sie deswegen nur noch sehr langsam. Magier wie Reykja hingegen konnten ganze 300 Jahre alt werden. Es kam also durchaus hin, dass Reykja und Alpha William Lycaon im selben Alter waren. "Ich habe auch noch irgendwo ein Foto...", murmelte sie dann und wedelte leicht mit der linken Hand. Ein dickes, in Leder gebundenes Fotoalbum flog mit Tempo ins Zimmer und landete schwungvoll auf dem Tisch. Reykja hob es an und begann darin zu blättern. "Hier ist es: Sommer 1950", triumphierte sie und hielt uns ein Bild unter die Nase. Es handelte sich um eine schwarzweiß Fotografie. Sie zeigte drei Personen: in der Mitte konnte ich Reykja erkennen und links von ihr stand ein Typ, der Silas verdammt ähnlich sah. Selbst auf dieser alten Fotografie konnte ich seine ungleichen Augen erkennen. An Reykjas anderer Seite stand ein weiterer junger Mann mit dunklen Haaren und Augen, die so menschlich wirkten, dass sie mich an Oli erinnerten. Reykja hatte mir schon von ihm erzählt. Nicht nur seine Augen waren denen von Oli ähnlich, auch seine Geschichte ähnelte der meines ehemaligen Partners. "Wer ist das?", wollte Silas neugierig wissen. Ein Schatten legte sich über Reykjas Strahlen. "Krystian Magnusson. Er, Will und ich waren in den Fünfzigern eine Zeit lang für Venandi unterwegs. Krys stammte aus einer uralten Familie von Sensiblen. Er war für Will und mich immer ein Anker zu unserer Menschlichkeit; jemand, der uns alltäglich vor Augen geführt hat, dass wir eben auch Menschen sind", erklärte sie und schien sich mehr und mehr in Erinnerungen zu verlieren.

Silas war anscheinend lange genug mit mir unterwegs um zu begreifen, was da gerade passierte, denn er wechselte das Thema. "Hast du Kekse?", wollte er wissen. Reykja schaute ihn überrascht an. Dann erschien das alte Strahlen wieder auf ihrem Gesicht. "Ich kann zaubern, ich habe alles", verkündete sie und auf einen weiteren Wink hin tauchte ein Teller mit Keksen auf dem Küchentisch auf. "Oh, meine Lieblingskekse", freute er sich. Reykja strahlte weiter. "Die hatte dein Vater auch immer am liebsten. Will hat zeitweise von den Dingern gelebt...", erklärte die Magierin. Silas ließ sich die Kekse schmecken und ich starrte gedankenverloren auf das alte Foto. Krystian erinnerte mich nach wie vor an Oli. Nicht, weil sie beide Sensible waren, sondern viel mehr weil ich wusste, dass sie dieselbe Geschichte hatten. Silas machte sich über dir Kekse her und Reykja wirkte vollauf zufrieden. Im Hintergrund dudelte eine klassische Melodie...

Flashback: Eine klassische Melodie dudelte durch den Raum. "Ich verstehe nicht, warum wir tanzen lernen müssen", beschwerte ich mich. "Tja Feychen, Agenten müssen halt alles können", lachte Oli. Wir standen mit einem Haufen anderer, ebenso missmutiger Agenten im Ballsaal der Zentrale in St. Paul's. "Warum haben wir hier überhaupt einen Ballsaal?", maulte ich. Oli zuckte die Schultern. "Das ist ein ziemlich großes, ziemlich magisches Gebäude. Es würde mich eher wundern, wenn sie hier keinen Ballsaal hätten", brummte mein Partner. "Findet euch bitte in Paaren zusammen", brüllte die Tanzlehrer etwas zu laut durch den Raum. "Darf ich bitten, Milady?", fragte Oli und streckte mir theatralisch die Hand entgegen. "Fuck you! Als hätte ich ne Wahl...", gab ich bissig zurück. Oli lachte nur kurz auf. "Ich habe dich auch lieb, Feychen", verkündete er. Ich starrte finster drein, konnte mir aber ein kleines Lächeln nicht verkneifen. "Mendacis, Monroe, konzentrieren sie sich auf ihre Schritte!", forderte die Lehrerin uns auf. Oli und ich lachten. "Können Fortunae nicht eigentlich verdammt gut tanzen?", wollte Oli wissen. "Die können alles, was nützlich ist, um Männer zu manipulieren", entgegnete ich knapp und konzentrierte mich auf meine Schritte. "Also das hast du nicht von deiner Mutter geerbt", stellte er nüchtern fest. Ich blickte finster zu ihm auf und kam auch prompt aus dem Tritt. "Du bist auch nicht gerade elegant, Oliver", erinnerte ich ihn spitz. "Dann wollen wir mal hoffen, das wir keinen Einsatz bekommen, bei dem wir tanzen müssen", stellte er unverschämt fröhlich fest. "Pause!", erlöste uns die Tanzlehrerin. "Oh Gott sei Dank", seufzte ich. "Och Feychen... So schlimm ist es doch gar nicht", versuchte er mich, immer noch fröhlich, zu beschwichtigen. Ich runzelte unzufrieden die Stirn. "Schau nicht so finster, davon bekommst du Falten", stichelte er und zog mich mit einem breiten Grinsen zu sich. Mit gespielter Theatralik drückte er mir einen Kuss auf die Stirn. "Das ist unfreundlich", maulte ich und blinzelte ihn herausfordernd an. Oli griff nach meinem geflochtene Zopf und legte ihn mir über die Schulter und plötzlich standen wir nicht mehr in dem Ballsaal und plötzlich dudelte auch keine Musik mehr vor sich hin. Plötzlich lag ich in silbernen Ketten und der Oli vor mir war ein ganz anderer Mensch. Da war nichts mehr von der Fröhlichkeit und der entspannten Zufriedenheit. Da war nur noch Zorn. Brutal packte er meinen sich bereits auflösenden Zopf und schnitt meine langen, dunklen Haare im Nacken ab...

FearlessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt