Zwei - Fey

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Direktor Ray Shepherd kam in mein Zimmer, ohne auf mein herein zu warten. Niemand wartete auf mein herein, weil sie wussten, dass ich es nicht sagen würde. Ich wollte keine Fremden in meinem Zimmer und auch keine Ärzte. Ich wollte niemanden in meinem Zimmer. Ich musterte den Fremden. Versuchte einzusortieren, ob er mir wehtun würde oder ob er mir egal sein konnte. Er war ziemlich groß, knappe 1,90m und hatte eine muskulöse Statur. Optisch war er Skandinavier mit irischen Einschlag. Seine dunkelblonden Haare hatten einen rötlichen Stich und waren anscheinend länger nicht mehr geschnitten worden. Trotz seiner Größe bewegte er sich geschmeidig und anmutig. Jede seiner Bewegungen verriet mir, dass er ein ausgezeichneter Kämpfer sein musste. Im Moment war er allerdings nicht in Alarmbereitschaft, er fühlte sich sicher. Er trug teure Kleidung, wenn auch in einem schlichten Stil. Er wusste, dass er wichtig war, aber er verhielt sich nicht abgehoben. Seine Augen, eines kaffeebraun, das Andere leuchtend blau, und sein Geruch verrieten ihn als Lycaner. Und er war nicht irgendein Lycaner. Langsam und entspannt bewegte er sich auf mich zu. Jeder Muskel spannte sich in mir an. Mir war egal, wer er war. Wenn er mir zu nahe kam, würde ich mich entweder verteidigen oder fliehen. Aber er kam mir nicht zu nahe. Er erkannte meine Wohlfühlzone und respektierte sie. An der Grenze, aber nicht darüber, setzte er sich zu mir auf den Boden, darauf bedacht, den Weg zwischen mir und der Tür freizuhalten. Ich bemerkte, dass sich Ray in den Hintergrund zurückzog. Ich nahm seine Präsenz deutlich wahr, aber dahinten war er keine Bedrohung. "Fey, ich heiße Silas...", begann der Lycaner und obwohl seine Stimme ruhig war, erkannte ich eine Spur Nervösität in seinen Worten. "Ich weiß, wer du bist. Ich kann es riechen und ich war Spionin. Dinge wissen ist meine Aufgabe", unterbrach ich ihn. Er lächelte leicht und ein Funkeln zuckte duch das braune Auge. "Du bist Silas Lycaon, dein Vater ist der Alpha des Europäischen Rudels", stellte ich sachlich fest und freute mich, eine Prise Überraschung in seinen Augen zu erkennen. "Und du bist Fey Monroe. Dein Vater ist ein Lycaner. Er war Heiler bei uns im Rudel", entgegnete er. Anscheinend musste ich kurz überrascht ausgesehen haben, denn er lächelte wieder. "Ich habe meine Hausaufgaben auch gemacht, Fey", erklärte er. "Dann weißt du ja sicher, dass meine Mutter so eine Casino Fee war", grummelte ich und selbst in meinen Ohren hörte ich die Verachtung bei dem Wort 'Casino Fee'. Casino Feen waren die Huren der übernatürlichen Welt. Es handelte sich bei ihnen um Fortunae, weibliche Feenwesen, die Glück brachten. Sie waren zwar nicht die Klügsten, aber sie galten als unbeschreiblich schön. Für Geld taten sie alles. Sie begleitete die zahlenden Spieler in Kasinos und vorallem an Spieltische, was deren Siegchancen erheblich steigerte. Interessant wurde es immer dann, wenn mehrere dieser Feen in einem Spiel mitmischten. Und für ein wenig mehr Geld taten sie noch eine ganze Menge mehr, als nur Glück zu bringen... Silas nickte. "Auch das weiß ich. Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich hier bin. Ich möchte mich am Kampf gegen OKÜP beteiligen und ich brauche eine Partnerin", eröffnete er mir. Ich erkannte die unausgesprochene Frage. Ich merkte sehr wohl, dads er mich meinte. Aber was wollte er mit mir? Venandi hielt mich seit neun Monaten in dieser Kathedrale fest, weil sie mich für zu gefährlich hielten. Warum sollte ich also mit einem Lycanerprinzen auf Mission gehen? "Ich weiß, dass du noch eine Rechnung mit OKÜP offen hast. Und ich weiß, dass du hier gerne raus möchtest. Wenn du jetzt mitkommst, ist das win win", ergänzte er. Vielleicht sollte er Autos verkaufen. Er war überzeugend und er hatte Recht. Ich wollte hier raus und bei Gott, ich hatte einen Hass auf OKÜP. "Deine Chance", fuhr Silas fort. "Fass mich nicht an", warnte ich ihn. "Ich gebe dir mein Ehrenwort", versprach er. Ich nickte leicht und zog mich an der Wand hinter mir hoch. Allerdings ohne Silas und Shepherd den Rücken zuzudrehen. "Okay, ich mache es. Ich muss nur vorher duschen", erklärte ich. Silas lächelte zufrieden. "Ich lasse dir deine Ausrüstung rauslegen", mischte sich zum ersten Mal auch wieder Ray ein. Ich wartete, bis beide mein Zimmer wieder verlassen hatten und schlurfte unter die Dusche. Das Bad war winzig und ich konnte die Tür nicht abschließen, weil man sich seitens Venandi Sorgen machte, dass sie, wenn irgendwas in diesem Bad passieren würde, nicht rechtzeitig würden helfen können. Das heiße Wasser lief mir über den Rücken. Ich würde rauskommen. Aus diesem Zimmer. Aus der Kathedrale. Aus der Zentrale von Venandi. Weg von St. Paul's. Ich würde wieder die Sonne sehen. Wenn sie sich im verregneten England überhaupt zeigen würde. Ich würde wieder den Wind spüren. Und vorallem, ich würde mich an OKÜP rächen. Für all das, was sie mir angetan hatten. Und wenn ihre Schuld bezahlt war, würde ich vielleicht wieder schlafen können. Schlafen, ohne Nachts schreiend aufzuwachen. Schlafen und leben, ohne Angst und ohne Albträume.

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