Drei - Silas

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"Ich schicke dir Feys Akte, damit du nachlesen kannst, was bei ihr Sache ist", entschied Shepherd. "Sollte sie mir das nicht viel eher selber sagen?" gab ich zu bedenken. "Das wird sie nicht", entgegnete der Direktor schlicht und tippte weiter auf seinem Tablet herum. Fey blieb eine halbe Ewigkeit unter der Dusche und ich machte mir schon Sorgen, dass sie es sich doch anders überlegt hatte. Dann kam sie allerdings in den Raum. Sie trug eine Venandi Montur und ihre dunklen Haare waren noch nass. Sie hatte eine Umhängetasche über der Schulter. Jetzt konnte ich ihr Feenerbe deutlich erkennen. Die meisten Lycaner waren muskulös und kräftig. Fey hingegen war so zierlich, dass sie wahrscheinlich Untergewicht hatte. Ihre Züge waren filigran und sie war vergleichsweise klein. Schätzungsweise 1,60m. Sie bewegte sich anmutig. Wenn sie nicht so unter Strom stünde wie jetzt, wären ihre Bewegungen wahrscheinlich fast schwebend. Ihr Blick war wachsam. Sie prägte sich den ganzen Raum ein, bevor sie sich einen strategisch klugen Sitzplatz suchte. Mit dem Rücken zur Wand und einem kurzen Fluchtweg zur Tür, schaute sie erwartungsvoll in die Runde. "Wir fangen leicht an. Es gibt einen wilden Vampir in São Paulo. Kümmert euch bitte drum", erklärte Shepherd. Fey legte die Stirn in Falten und auch ich wunderte mich. "Ist das nicht Aufgabe des Clans?", wollte ich wissen. "Normalerweise schon, aber der Clan sagt, dass er nicht zu ihnen gehört und das auch nie hat. Wir vermuten, dass OKÜP ihn geschaffen hat. Also findet ihn, nehmt ihn gefangen und bekommt heraus, wie das möglich ist", ergänzte der Direktor. Das machte schon mehr Sinn. Aber wie zur Hölle war es OKÜP gelungen, einen Vampir zu erschaffen? "Ich habe hier Flugtickets für euch. Und Fey, dein Pass ist da auch drin". Der Direktor reichte uns einen Umschlag. Er war gefüllt mit Bargeld, einer Venandi Kreditkarte, zwei Business Class Flugtickets nach São Paulo. Und Feys Reisepass. Zu meiner Überraschung war es ein amerikanischer. "Ich bin in Las Vegas geboren. Ich müsste noch irgendwo einen englischen Führerschein haben", erklärte sie leise. Natürlich, wenn ihre Mutter eine Casino Fee gewesen war, machte das durchaus Sinn. São Paulo also, Brasilien. Eine ziemlich weite Reise für jemanden wie Fey. Unter 'etwas einfachem' hätte ich einen Auftrag hier in England oder mindestens innerhalb von Europa verstanden. Immerhin würden wir mit Avis fliegen. Eine Airline im Besitz des amerikanischen Lycaner-Rudels. Wenn man als übernatürliches Wesen fliegen musste, war Avis immer die erste Wahl. An Bord gab es weder Silber noch reines Eisen, Weihrauch oder andere Dinge, die unsereins schaden konnten. Die Fenster hatten einen hundertprozentigen UV-Schutz, was auch den Vampiren ermöglichte zu fliegen. "Ich würde euch raten, jetzt die U-bahn zum Flughafen zu nehmen", erklärte Shepherd. Und blickte kurz von seinem Tablet auf. Fey nickte angespannt. Schulterte ihre Tasche und erhob sich. Als wir St. Paul's verließen, hohlte sie tief Luft. Wahrscheinlich stand sie seit Monaten das erste Mal wieder so wirklich unter freiem Himmel. Ich fragte mich, ob es schlau war, sie U-bahn fahren zu lassen. Immerhin waren da überall Menschen und Fey hatte ja bekanntlich so ihre Schwierigkeiten mit Menschen. Anderseits hatte Shepherd vielleicht auch einfach übertrieben und sie war gar nicht so unberechenbar. Ich konnte ihre Waffen nur erahnen, aber ich war sicher, dass sie bewaffnet war. Avis erlaubte es den Venandi Agenten, kleinere Waffen an Bord ihrer Flugzeuge mitzuführen. Solange sie nicht aus Silber oder reinem Eisen waren, selbstverständlich. Dinge wie Schusswaffen waren allerdings nicht erwünscht. "Bitte versuche, unterwegs niemanden umzubringen", bat ich sie leise. Sie musterte mich fast spöttisch. "Ich geb mein Bestes", versprach sie.

Fey in der vollen Londoner U-bahn zu beobachten, ließ sich wohl am besten damit vergleichen, einen in die Enge getrieben Wolf zu beobachten. Sie war angespannt bis in die Haarspitzen und dank meiner geschärften Sinne konnte ich ihr Herz rasen hören. Die Menschen hielten instinktiv Abstand, allerdings nicht genug, um im Ernstfall außerhalb der Reichweite ihrer Waffen zu sein. Fey krallte sich mit der einen Hand an die Haltestange und mit der anderen an den Gurt ihrer Umhängetasche. Ich war erleichtert, als wir den Flughafen erreichten und Fey niemanden umgebracht hatte. "Alles gut bei dir?", fragte ich besorgt. "Alles bestens", entgegnete sie und rückte ihre Tasche zurecht. Ich wusste, dass sie mich analog, aber ich wollte auch nicht mit ihr diskutieren.

Immerhin verlief der Check-in überraschend problemlos. Anstandslos legte Fey ihre Tasche, Jacke, Schuhe und sogar ihre Waffen auf das Band und marschierte erhobenen Hauptes durch den Nacktscanner. Als die Frau vom Sicherheitsdienst Andeutungen machte, sie abzutasten, knurrte Fey leicht und die Frau, bei genauerem Hinsehen zeigte sie deutliche Anzeichen von Feenblut, ließ von ihr ab. Der entscheidende Vorteil an der Business Class war, das nur ich das Pech hatte, in Feys Wohlfühlzone zu sitzen. Wir würden in New York zwischenlanden und von dort nach São Paulo weiterfliegen. Fey spielte die gesamten acht Stunden nach New York nervös mit einem ihrer Messer. Die Stuardess und sämtliche Mitreisenden hielten instinktiv Abstand. Mir war dieser Luxus nicht vergönnt und so verhielt ich mich ruhig und vermied plötzliche Bewegungen.
Als wir in New York aus dem Flieger stiegen, war ich erleichtert, dass niemand gestorben war. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn ich Fey in einem stressfreien Rahmen kennengelernt hätte, bevor ich mit ihr um die halbe Welt reise. Und dabei keinerlei Ahnung habe, wie ich im Ernstfall mit ihr umgehen soll.

FearlessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt