Krieg

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Die Dunkelheit war leer. Hier gab es keinen Krieg. Keinen Frieden. Keine Schmerzen, aber auch keine Liebe. Sie löste ihn von all dem ab, sein Leben rückte in die Ferne, bereit für immer zu versinken. Tobias hatte sich oft gefragt, wie es wäre zu sterben und wann er an der Reihe sein würde. Natürlich hatte er sich früher gewünscht, mit Sam irgendwo weit weg ein Zuhause zu finden und dort eines Tages in einem hohen Alter einzuschlafen. Einfach so. Am besten nach einem schönen Sommertag, so dass ihm ein letzter Sonnenuntergang nicht verwehrt blieb, mit der Gewissheit, dass es Sam gut ging und seine Kinder am nächsten Morgen wieder lachend ihren Garten unsicher machen würden. Sie würden ihn in guter Erinnerung behalten, sich grinsend an ihn erinnern und seine Geschichte irgendwann mit in ihr Grab nehmen, wenn die Zeit für eine weitere neue Generation gekommen war.

Diese Vorstellung hatte er jedoch im See zurücklassen, an jenem Ort, den er eigentlich zu seinem Ende auserkoren hatte. Dort war er der Dunkelheit das erste Mal begegnet. Sie hatte ihn überrascht, war sie doch weit weniger quälend als James. In den kurzen Sekunden, die er mit ihr verbracht hatte, hatte sie all seine Erwartungen widerlegt, sie war nichts, was sich beschreiben ließ, weil sie nur ein leerer Raum war, ohne Inhalt, ohne Zeit, ohne Farben, ohne Dasein. Haltlos. Leblos. Aber irgendwie für die Ewigkeit. Und es machte Sinn, denn wäre sie anders beschaffen gewesen, hätte sie niemals für alle Platz geboten, die sie sich zu eigen gemacht hatte. Sie versprach nichts. Bot nichts. Verwahrte nichts. Alles wurde zu einem, nichts. Aber so war das Leben. Ein Kommen und Gehen, ein geboren werden und ein Platz machen, für das neue Leben. Nach dem Tod wartete nichts. So, wie Elijah es gesagt hatte. Tobias verstand, dass dieser Prozess nötig war, doch er hieß die Dunkelheit dieses Mal nicht willkommen. Er ließ sich nicht willig in ihre Arme fallen, sondern kämpfte. Es ging um nicht weniger, als um sein Leben. Seine Zukunft. Man wollte sie ihm nehmen, aber dafür war er nicht bereit. Jetzt, wo er vom Glück gekostet hatte, war er süchtig danach. Er wollte mehr. Mehr Tage mit Elijah, mehr Küsse, mehr Momente mit Sam. Hoffentlich versöhnliche. Nur würde er dies niemals erleben, wenn er jetzt aufgab. Also tat er es nicht, versuchte sein Herz anzuflehen, weiterzuschlagen, die Augen wieder aufzureißen und nach Luft zu schnappen. Er ließ nicht los. So widerspenstig und gnadenlos die Dunkelheit auch sein mochte, er würde stärker sein. Es war noch nicht an der Zeit. Es wurde immer schwerer, seine Gedanken zu sammeln und doch gelang es ihm, noch an jene Buchseiten zu denken, die sicher verwahrt in seinen Hosentaschen ruhten.

Die letzten Seiten des Buches über die weißen Wölfe. Tobias hatte sie gelesen, kurz bevor er den Nachtschatten zu sich genommen hatte. Vielleicht war es Schicksal gewesen, dass ausgerechnet die Seiten zu den Fähigkeiten erhielten geblieben waren. Zwar hatten sie ihm nicht verraten, wie man genau die Fähigkeiten erlangen konnte, aber dafür hatten sie sich damit beschäftigt, über welche Gebiete sie sich erstreckten. Er hatte erfahren, dass ihnen keine Grenzen gesetzt waren, dass sie von Wolf zu Wolf variierten und sich meistens erst dann offenbarten, wenn man sie wirklich benötigte. Manchmal waren es Hellseherfähigkeiten, manchmal besondere Schnelligkeit oder Stärke, oder übernatürliche Sinne. Manchmal waren es Heilkräfte. Vielleicht hatte er Glück.

Aber je länger er wartete, desto mehr schwand seine Hoffnung und die Dunkelheit schritt weiter voran. Er schrie, nur hörte ihn niemand. Elijah war in einer anderen Welt, unerreichbar, obwohl der Alpha seinen Kopf in seinen Armen hielt und ihn fest gegen seine Brust drückte. Tobias konnte nicht sehen, wie er weinte, wie er bettelte und nicht akzeptieren wollte, dass das Herz des Omegas nicht mehr schlug. Darin hatten sie etwas gemeinsam. Doch von Tobias würde bald nicht mehr genug übrig sein, um es aufzuhalten. Die Schwärze war beinahe schon überall. Da unternahm er einen letzten Versuch und versuchte bei seinem Wolf Hilfe zu suchen. Nur waren seine Rufe nicht mehr als ein Flüstern. Fast zu leise, um es zu hören. Es genügte.

Er spürte die Anwesenheit des weißen Wolfes und konnte kurz darauf seine eigene Wolfsform vor sich sehen, wie die dunkelblauen Augen ihn aufmerksam musterten, als wüssten sie ganz genau, was er von ihnen wollte. Tobias versuchte zu ihm sprechen, versuchte ihn anzuflehen, alles zu tun, um zu den Lebenden zurückzukehren, doch seine Stimme hatte ihn bereits verlassen. Der weiße Wolf legte indes seinen Kopf in den Nacken und gab ein lautes Heulen von sich, das die Dunkelheit in Schwingung zu versetzten schien. Sie bekam Risse. Risse, durch die sich gleißendes Licht ausbreiteten. Tageslicht. Es drängte die Dunkelheit immer weiter zurück, bis er seine Glieder wieder spürte und sein Herz mit einem Ruck wieder in Bewegung kam. Wenn er sich nicht irrte, lächelte sein Wolf. Aber er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, dafür war der Moment zu schnell vergangen, ehe sich sein Wolf leichtfüßig erhob, auf ihn zusprang, um wieder mit ihm zu verschmelzen. Er konnte seine Macht in seinen Adern pulsieren spüren, wie sie ihm Kraft spendete und Mut gab. Bereit sein Schicksal zu erfüllen. Die Dunkelheit würde auf ihn warten müssen.

GefangenWhere stories live. Discover now