Alte Wunden

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Elijah weinte stumm. Nicht ein Laut verließ seine zusammengekniffenen Lippen. Er rührte sich auch nicht. Er verharrte über Tobias gebeugt und starrte diesen an, obwohl sich der Omega fühlte, als würde der Alpha eher durch ihn hindurch starren. Der Kontrast der beiden in ihrer Trauer hätte nicht größer sein können, wo Tobias völlig die Kontrolle verloren hatte, blieb Elijah kontrolliert, er schluchzte nicht, er bebte nicht. Beinahe sah es so aus, als würde er sogar die Luft anhalten. Tobias ertrank in den dunklen Pupillen, die so viel Schmerz ausstrahlten, wie seine eigenen. Er konnte sich das Verhalten des Alphas nicht erklären. Sicherlich hatte er ihn gerettet, weil er sich erhoffte, mit der Hilfe von Tobias den Krieg zu gewinnen, doch warum er derart in Tränen ausbrach blieb ein Rätsel. Sie kannten einander kaum, geschweige denn lange, daher konnte diese Trauer nicht ihm gelten, sie schien tief aus Elijahs Herz herauszubrechen, also musste das Geschene irgendetwas in ihm wachgerüttelt haben.

Tobias traute sich nicht, das Wort zu ergreifen. Es erschien ihm falsch und er wusste ohnehin nicht, was er sagen sollte. Er würde dem Alpha gewiss nicht danken, schließlich hatte er die Entscheidung, sein Leben zu beenden, ganz bewusst getroffen. Am liebsten hätte er ihn angeschrien. Warum er ihn gerettet hatte, nur damit Tobias den Schmerz wieder aushalten musste. Aber Elijahs Zustand nahm seiner Wut den Wind aus den Segeln. Von ihr blieb nichts zurück. Denn als er seine Hand hob und mit einer Fingerspitze vorsichtig zitternd nach seiner Wange griff, wurde ihm bewusst, dass Elijahs Tränen seinen gleich aus großem Leid entstanden sein mussten. Da erkannte er sich in dem Alpha wieder, erkannte, dass das Leben auch ihn für immer gezeichnet hatte, dass auch unter seiner starken Maske Wunden verborgen waren, dass auch er verletzt war. Und für einen irrwitzigen Moment war die Einsamkeit nicht mehr so schwer.

Bis sich Elijah von ihm löste, von ihm herunter robbte und seinen Kopf von ihm abwandte. Es fühlte sich an, als habe er eine unsichtbare Verbindung gekappt. Wortlos stand er auf und drehte einem verwirrten Tobias seinen Rücken zu, bevor er sich schleppend in Bewegung setzte und in Richtung des Dorfes verschwand. Tobias blieb zurück. Allein. Verwirrt. Mit unzähligen Fragen, die ihm auf der Seele lagen. Überforderung machte sich breit, unschlüssig, ob er Elijah nachsetzen, wieder in den See springen oder einfach liegen bleiben sollte, während er langsam wieder zu Atem kam.

Die Entscheidung nahm ihm schließlich Miles ab, der aus dem Dorf zu ihm eilte, eine Decke in den Armen haltend, die er sogleich um Tobias Schultern legte und dem Omega half sich ein wenig aufzusetzen. Besagter musterte ihn ziemlich fragend, was den Beta veranlasste, sich seufzend neben ihm niederzulassen und leise zu murmeln: "Elijah hat mich per Mindlink informiert, was passiert ist und mich hergeschickt. Auch wenn er mir nicht gesagt hat, was dich auf die wahnwitzige Idee gebracht hat, in dem Vorhaben nicht mehr aufzutauchen, in diesen Tüpel zu springen. Kannst du mir das vielleicht erklären?"

Tobias Blick huschte gen Boden, nicht bereit seine Geschichte mit Miles zu teilen. Jahrelang hatte er die Dinge mit sich allein ausgemacht und sich niemandem anvertraut. Es gab keinen Grund dies nun zu tun. Vorallem wo er mit seinem Wunsch zu sterben noch nicht abgeschlossen hatte. Nur weil ihn Elijah ihn aus dem Wasser gezogen hatte, machte es seine Situation nicht besser und ein Teil von ihm war enttäuscht von sich selbst, dass er Elijahs Verschwinden nicht genutzt hatte, um einen weiteren Versuch zu unternehmen.

"Warum?", flüsterte der Omega schließlich.

"Wie ich Gegenfragen liebe. Insbesondere, wenn ich sie nicht einmal verstehe."

"Warum hat er geweint, als er mich gerettet hat?", erwiderte der Omega und hob seinen Blick wieder, um Miles Reaktion beobachten zu können.

Ein Schatten huschte über die Züge des Betas, er presste seine Zähnen zischend aufeinander, bevor sein Gesicht vollkommen ausdruckslos wurde und er gedankenverloren den See zu mustern schien.

GefangenWhere stories live. Discover now