Ein Leben für ein Leben

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Tobias war wie betäubt. Der ganze Weg zur Grenzen erschien ihm wie ein Traum. Er konnte nicht fassen, welche Nachricht ihnen überbracht worden war, selbst als er mit seinen eigenen Augen die Schattenwölfe am Waldrand sah und James beobachtete, wie er mit Sam nach vorne trat, dessen Kehle er fest im Griff hielt, kam es ihm noch unwirklich vor. Gerade eben war er noch geflogen. Höher als je zuvor. Und nun hatte man ihm die Flügel genommen und er stürzte herab, so schnell, dass er nicht in der Lage war, den Boden zu sehen. Der Fall hörte einfach nicht auf. Die aufgeregten Stimmen von Miles und Benjamin verschwammen im Hintergrund. Das Einzige, dessen er sich hin und wieder bewusst wurde, war Elijahs Hand, die seine noch immer hielt. Die ihn auffangen wollte, wie sie es zuvor getan hatte. Doch dieses Mal schien der Alpha mit ihm zu fallen.

Als sie vor den Schattenwölfen zum Stehen kamen, überfiel es ihn. Die Angst war zurück, wie ein alter Bekannter, der ihn nie verlassen hatte. Sie unterdrückte eisern jedes Glücksgefühl, das ihm das Atmen erleichtert hatte und fraß sich durch seinen Körper. Das Gefühl zu ersticken war wieder präsent. Er starrte zu Sam, an dessen Kehle bereits etwas Blut floss, weil James sich nicht darum kümmerte, wie rabiat sein Griff war. Tobias erkannte seinen kleinen Bruder nicht wieder, wären sie im Dorf aneinander vorbei gelaufen, er wäre ohne sich umzudrehen weitergelaufen. In Sams Gesicht spiegelte sich absolut nichts wieder. Nur eine gähnende Leere. Er reagierte nicht auf Tobias und die anderen, sondern hing schlaff, einer Puppe gleich, in James Armen. Er hatte sich wohl seinem Schicksal ergeben und Tobias verurteilte ihn nicht dafür. Nur zu gut kannte der Omega den Punkt des Aufgebens, des Resignierens. Den Augenblick indem man erkannte, dass es sich nicht mehr lohnte zu kämpfen, weil das eigene Leben nicht mehr in den eigenen Händen lag.

"Nun, da ihr hier seid, habt ihr wohl meine Nachricht erhalten", sagte James und Tobias hätte das breite Grinsen am liebsten aus dem Gesicht des Alphas gerissen.

"Ihr wisst also von unserem Angebot. Unser lieber Sam hat sich leider nicht als Wunderknabe erwiesen, daher hat er für uns keinen Wert mehr, sehr zu unserem Bedauern. Doch wir wollen sein Leben verschonen, wenn ihr uns dafür Tobias ausliefert", er schüttelte Sam ein wenig während er sprach, dessen Kopf dabei beängstigend hin und her wackelte, "Ein Leben gegen ein Leben. Ein fairer Tausch nicht wahr?"

"Als ob wir euch Tobias überlassen würden", brüllte Miles und stürmte bereits vor, nur um im letzten Moment von Benjamin abgefangen zu werden, um keinen Kampf zu entfachen. Der Vampir hielt den Beta nur schwer in Schach, besonders als James schallend lachte.

"Dann wird er seinen kleinen Bruder verlieren."

"Nein!", nun war es an Tobias zu schreien. Wenn er eines nicht zulassen würde, dann dass sein Bruder starb. Auch wenn es seinen eigenen Tod bedeutete.

"Du kannst dich nicht für ihn eintauschen", flüsterte eine Stimme ganz nah an seinem Ohr, "Bitte... Ich brauche dich, Tobias. Solltest du mit ihnen gehen, werden sie dich entweder töten oder dich für ihre Zwecke missbrauchen."

Die Stimme versagte, wich für einen kurzen Moment einem Wimmern, bevor sie sich beeilte weiterzusprechen: "Ich liebe dich und ich weiß, was dir dein Bruder bedeutet, aber ich will dich nicht verlieren."

Trotzallem, trotz der Schattenwölfe um sie herum und James, der seinen Bruder bedrohte, löste diese Stimme etwas in Tobias aus, brachte sein Herz zum schlagen, als würde es danach rufen zu leben. An Elijahs Seite. Und doch war sein Entschluss bereits in der Minute gefallen, als der Wächter mit seinem Bericht geendet hatte. Es gab nur einen Weg. Es hatte immer nur einen gegeben.

"Stell dir vor, es wäre Jane", murmelte er leise und er konnte sehen, wie sehr er Elijah damit traf, weil der Alpha begriff, was er ihm sagen wollte. Die Miene des Alphas verzog sich, offenbarte einen Schmerz, den er vor dem Omega stets verborgen hatte und Tobias war schockiert von dem, was an die Oberfläche brach. In wenigen Sekunden alterte der Alpha um mehrere Jahre, sein Mund öffnete sich, als wolle er seinem Schmerz Ausdruck verleihen, nur verließ kein Laut seine Kehle. Er weinte stumm, weinte in einer Art und Weise, die Tobias noch nie beobachtet hatte und ganz tief in seinem Inneren, brach es ihm sein Herz.

"Wie rührend", zerstörte James hämische Stimme den Moment, "Aber ich habe nicht ewig Zeit. Daher erwarte ich eine Entscheidung. Zügig!"

Sam lief allmählich etwas blau an, was Tobias dazu brachte, hektisch einen Schritt nach vorne zu machen.

"Lass ihn gehen, dann sollst du mich im Austausch für ihn bekommen."

"Kluge Entscheidung, doch ich lasse mich nicht täuschen", wies James ihn zurecht, "Du kommst zuerst zu mir, erst dann werde ich ihn loslassen."

Tobias nickte ergeben und wollte bereits zu dem Alpha, da umklammerte Elijah verzweifelt sein Handgelenk und hielt ihn zurück.

"Bitte, bitte. Das kannst du nicht tun", bat ihn der Schwarzhaarige, dem nun Tränen in rauen Mengen aus den Augen flossen. Selbst Miles hatte bei diesem Anblick seinen Protest eingestellt. Für einen Augenblick gab es nur noch sie beide. Tobias und Elijah. Und noch nie war Tobias etwas so schwer gefallen, wie dieser Abschied.

"Ich kann nicht", antwortete er gebrochen, "Ich kann mich nicht gegen ihn entscheiden. Aber das ändert nichts daran, dass ich dich liebe und dir immer mein Herz gehören wird." Er brach den Augenkontakt. Konnte ihn nicht mehr ertragen. "Vergiss das nie."

Damit drehte er sich um und lief zu James, bemerkte am Rande, wie Miles noch versuchte nach ihm zu greifen. Doch es war bereits zu spät. James Hände lösten sich von Sam und schlossen sich stattdessen um Tobias Oberarme. Sam strauchelte nach vorne, zum Glück reagierte Cassandra sogleich und nahm ihn in ihre Arme, während sie fassungslos Tobias anstarrte.

"Ich werde ihn nicht ziehen lassen", ertönte Miles Stimme erneut, als er sich auf James stürzen wollte, doch Tobias Kopfschütteln hielt ihn plötzlich zurück.

"Bitte hör auf", sagte der Omega, sah Miles nun direkt an, "Ich will nicht, dass du wegen mir stirbst."

Da sackten die Schultern des Betas herab. Verzweifelt blieb er stehen. "Tobias..."

"Bitte pass gut auf ihn auf", flehte der Omega, als James und die Schattenwölfe sich zum Gehen wandten, Tobias dabei mitziehend, dessen Beine ihren Dienst versagten. Er schluchzte. Er brach und wiederholte immer noch dieselben Worte: "Pass auf ihn auf!". Er sah Elijah zu Boden gehen, sah ihn auf den Knien zusammengekrümmt und alles in ihm schrie danach, zurück zu ihm zu eilen, um ihn von seinem Leid zu befreien. Aber James hielt ihn dicht bei sich und ließ ihm kein Entkommen. Das siegesgewisse Lachen der Schattenwölfe ertönte und Tobias Sicht auf die anderen schwand, als sie den Wald betraten. Doch auch unter Tobias Schluchzen verbarg sich ein kleines Lächeln. Er hatte es geschafft. Egal, was ihm auch passierte, alles was zählte war, dass Sam sich endlich in Sicherheit befand. Bei Elijah und den anderen war er in Sicherheit. Niemand würde ihm mehr etwas antun. Das war es wert, alles in Kauf zu nehmen. Auch wenn es ihn zerstörte.

"Dummer, kleiner Omega", sagte James zu ihm, "Eine echte Schmach für einen weißen Wolf. Viel zu leicht zu besiegen. Du wirst für deine Flucht bezahlen, wirst uns zu dem Sieg verhelfen, auf den wir seit Jahren warten."

Tobias glaubte ihm sofort. Er war sich bewusst, dass James nichts auslassen würde, um sich an ihm zu rächen, so grausam es auch sein mochte. Auf Mitleid oder Gnade brauchte er nicht zu hoffen, nicht nachdem, was geschehen war. Dass sie ihn bei ihrer Ankunft in sein altes Zimmer sperrten, war nur der Anfang. Er war wieder zurück. Allein mit den Schatten. Aber es hatte etwas Tröstliches, dass sie manchmal von glücklichen Erinnerungen verdrängt wurden. Erinnerungen an eine Zeit mit Elijah.

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*heute kein Konfetti, sondern Taschentücher im Angebot* :(

GefangenWhere stories live. Discover now