Ein Wind kommt auf

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Rückblick Prolog:
Ein kleiner Sonnenstrahl kämpfte sich seinen Weg durch die düsteren Vorhänge, grell durchschnitt er die Dunkelheit des spärlich möblierten Zimmers, um schließlich auf das Gesicht eines junges Mannes zu treffen, der aufgrund der plötzlichen Helligkeit aus dem Schlaf gerissen genervt blinzelte. Tobias hasste nichts mehr, als aufzuwachen. Jeder neue Tag war die Hölle. In der Nacht war er sicher, auch wenn Albträume ihn verfolgten, so reichten sie doch lange nicht an die Grausamkeiten heran, die bei Tage auf ihn warteten. Wenn er gekonnt hätte, wäre er nie wieder aufgewacht. Es gab nichts da draußen, was ihm Freude spendete. Die Welt vor seinem Fenster war grausam. Um sein Gesicht vor dem Licht abzuschirmen hielt er sich die Hände, die von Narben gezeichnet waren, vor die Augen. Früher als Kind hatte er das oft getan. In einer Ecke zusammen gekauert. Vor und zurück wippend. In der Hoffnung es würde ein Ende finden. Jetzt, Jahre später war er schlauer. Die Hölle kannte kein Ende. War man erst einmal in ihr gefangen ließ sie einen nicht mehr los.

Beim Aufstehen rebellierten seine Glieder, aber er zwang sie ihm Folge zu leisten, weil er wusste, dass sie sonst kommen und ihn eigenhändig aus dem Bett werfen würden. Diesen Fehler würde er nicht noch einmal begehen, nicht nachdem er es einmal versucht und bitter dafür bezahlt hatte. Sein halber Rücken war immer noch blau. Sein Zimmer zu verlassen kostete Überwindung, aber das war nichts im Vergleich zu den Überredungskünsten die es bedurfte, damit er das Wohnzimmer im Erdgeschoss betrat. Das Rudel hatte sich bereits versammelt. Er konnte ihre Stimmen durch die verschlossene Tür vernehmen. Als er sie öffnete, verstummten sie. Alle Augen hefteten sich auf ihn, als würden sie ihn bei lebendigem Leib verspeisen wollen, musterten sie ihn voller Hass, wie einen Parasiten, den es zu beseitigen galt. Nur ein Einziger sprang auf, lief auf ihn zu. Der einzige Grund, weshalb er noch liebte, der letzte verblieben Hoffnungsschimmer. Sein kleiner Bruder. Sam.

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Sam lachte, strahlte geradezu, als er sich mit Schwung in Tobias Arme warf, der einen zischenden Schmerzlaut von sich gab, aber dennoch die plötzliche Umarmung fest erwiderte. Niemals würde er seinen kleinen Bruder loslassen, keine Verletzung dieser Welt konnte ihn dazu bringen. Für eine Sekunde schlossen sich seine Lieder, gab sich der Illusion hin, dass es nur sie beide in diesem Raum geben würde, als würden die Schattenwölfe um sie herum gar nicht existieren. Er vergrub sein Gesicht in Sams Nacken, wo seine Nase auf den nur allzu bekannten Geruch traf, den er so sehr liebte, der ihn mitten ins Herz traf und versuchte uralte Erinnerungen an gute Zeiten zu wecken, doch sie lagen zu weit zurück, immer wenn er versuchte sie zu greifen, entwischten sie seinem Griff und verschwanden. Viel zu früh löste sich Sam und Tobias musste den Impuls, ihn erneut heranzuziehen, schwer schluckend unterdrücken, während er kramphaft versuchte, das Lächeln zu erwiedern, welches ihm gerade geschenkt wurde. Sam sollte nicht sehen, wie sehr er litt. Er wusste nicht, ob ihm sein Täuschungsmanöver gelang, aber Sam's Strahlen blieb, als dieser ganz aufgeregt das Wort ergriff.

"Du glaubst nicht, was die anderen gerade erzählt haben, Tobias!"

Seine Augen huschten kurz zu einigen Schattenwölfen hinüber, die ihm nun hämisch zu grinsten, und blieben schließlich an James hängen. Der Alpha hatte es sich in dem einzigen Sessel bequem gemacht, ein gefährliches, lauerndes Funkeln in den dunkeln Pupillen. Spätestens jetzt überkam Tobias die Erkenntnis, dass die Neuigkeiten keines Falles positiver Natur sein konnten.

"Wir werden morgen endlich wieder jagen gehen! Ist das nicht toll?"

Sein Blut gefror in seinen Adern. Die Ankündigung einer Jagd konnte nur bedeuten, dass die Allianz an der Front weiter vorgerückt war und sich neue Gebiete zu eigen gemacht hatte. Dementsprechend hatten sie weitere Menschen und Werwölfe versklavt. Neue Beute war also eingetroffen. Es schnürte ihm die Kehle zu. Manchmal, wenn er nachts wach lag und ihn die Hoffnungslosigkeit einholte, hörte er noch die Schreie der Menschen, die es bei der letzten Jagd getroffen hatte und so sehr er seine Hände auch auf seine Ohren presste, sie verstummten nie, als würden sie ihn für den Rest seines Lebens verfolgen.

Die anderen hatten ihn dafür verspottet, dass er beim Anblick der Menschen begonnen hatte zu zittern. Sein ganzer Körper hatte begonnen zu beben, sodass es ihm kaum noch möglich gewesen war, aufrecht zu stehen. Er hatte gewusst, was ihnen bevor stehen würde, hatte ihre Angst gerochen, ein Geruch der schwer in der Luft lag und sein Atmen erschwerte, hatte gewusst, dass ihr Ende qualvoll und lang sein würde und doch war er nicht in der Lage, sie davor zu bewahren, dazu verdammt zu verharren und Zeuge der grausamen Taten zu werden. Als sich unter den Geruch der Angst eine blutige Note mischte, waren die ersten verhassten Tränen durch seine Dämme gebrochen und hatten das Laub zu seinen Pfoten benetzt. Doch der Horror hatte mit ihrem Tod kein Ende gefunden, im Gegenteil, für Tobias begann er erst. Kaum hatten die Schattenwölfe von den Menschen abgelassen, hatten sie sich auf ihn gestürzt, die scharfen Reizzähne in seinem Fell vergraben, weil er in ihren Augen ein Feigling, ein Verräter war. Nicht einmal im Stande einem wehrlosen Menschen etwas anzutun. Sam hatten sie erzählt, sie wären auf einen Bären gestoßen, der Tobias derart verletzt hatte. Er wusste nichts von der menschlichen Beute, weil die Schattenwölfe sein Vertrauen nicht verlieren wollten und Tobias hatte es nicht über sich gebracht, ihm die Wahrheit zu erzählen. Es genügte, dass er von den düsteren Bildern verfolgt wurde.

"Du wirst doch mitkommen oder?", riss ihn Sam zurück in die Realität. Enttäuschung spiegelte sich in den Zügen des Jüngeren, als Tobias die Kontrolle für einen Moment verlor und seine Maske fiel, freien Blick auf seine Abneigung offenbarend.

"Sie haben uns extra eingeladen, Tobias! Sie geben sich wirklich Mühe uns endlich in das Rudel einzugliedern und du bist nichts anderes als undankbar."

Seine Worte waren wie Schläge in Tobias Magen, sie schnürten ihm die Kehle zu, der ein verzweifeltes Winseln entfliehen wollte, weil es nicht mehr zu leugnen war, dass der Plan der Schattenwölfe perfekt aufging. Sam wurde allmählich blind für das, was sich unter dem Schafspels verbarg.

Besagter starrte ihn hartnäckig an: "Bitte überlege es dir. James hat bereits angeboten, dass du seiner Gruppe zugeteilt wird, damit dich nicht wieder ein Bär anfällt. Er hat mir sogar angeboten, heute allein mit mir zu trainieren. Wir sehen also heute abend." Mit jenen Worten verabschiedete sich Sam vorfreudig und stürmte bereits nach draußen, wahrscheinlich um vor den anderen Jugendlichen zu prahlen, welche Ehre ihm mit diesem Training zu teil wurde. Tobias starrte ihm indes wortlos hinterher, bevor er zu James sah, dessen Mundwinkel spöttisch zuckten. Es stand außer Zweifel, dass Tobias ihn morgen auf der Jagd begleiten würde. Nicht weil er es wollte, sondern weil er es musste. Der Alpha hatte sich erhoben, durchschritt den Raum, als gehöre ihm die Welt, als sei er bereits der König, der er wünschte zu sein. Seine Hand legte sich in aller Seelenruhe um Tobias Kehle, nie den Augenkontakt brechend, nie das Lächeln verlierend, sich an seinem Leid ergötzend, bis Tobias ein Zappeln nicht mehr zurückhalten konnte, bis er nach Luft schnappte, weil seine Lungen nach Sauerstoff verlangten. Es war ein Versprechen, dass der morgige Jagdtag ein wahrgewordenener Albtraum werden würde. Es war ein Zeichen, dass sein Leben in diesem Raum nichts wert war. Es war eine Drohung, als James ihm endlich das Atmen wieder ermöglichte und sich gleichzeitig zu seinem Ohr vorbeugte und ihm zuflüsterte: "Du wirst ihn verlieren. So oder so." Es war die Wahrheit, die ihm beinahe mehr zusetzte als das Würgen.
Tobias konnte später das Knurren vom Trainingsplatz bis ins Rudelhaus hören, dessen Boden er auf den Knien schruppte, ein Tuch um seinen Hals, um die Male zu verdecken, jene Male, die ihm derselbe Wolf zugefügt hatte, der seinem kleinen Bruder nach einem erfolgreichen Traningskampf lobend auf die Schulter klopfte. Und Tobias konnte nur hoffen, dass das Band zwischen Sam und ihm stark genug war, denn schon bald würde es sich erneut bewähren müssen.

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Wow, bin richtig geflasht von euren Rückmeldungen, vielen Dank für eure Votes & Kommentare für die vorherigen Kapitel. Habe mich riesig drüber gefreut♥ Hoffe, dass euch auch das neue Kapitel gefällt :)

GefangenWhere stories live. Discover now