"Das ist schon ewig her", begann er nach einer Weile leise, "Elijah ist das erste Kind unseres alten Alphas. Er war ein unheimlich lebensfroher Junge mit einer Bilderbuchfamilie. Als er erfuhr, dass seine Mutter erneut schwanger geworden war und er bald zu einem großen Bruder werden würde, ist er außer sich vor Freude gewesen. Tagelang ist er nur auf und ab gehüpft und hat gefragt, wann es endlich soweit wäre, wann er endlich sein Geschwisterchen in den Händen halten dürfte. Ich habe ihn nie jemanden zu halten sehen, wie er Jane gehalten hat, kaum das sie geboren worden war. Er hat sie abgöttisch geliebt und hat sie die folgenden Jahre heldenhaft, wie es sich für einen großen Bruder gehört, vor allen Gefahren beschützt. Sie waren wie Pech und Schwefel und Jane sah immer zu Elijah auf. Sie war ein Mädchen, die Abenteuer liebte und nicht unbedingt einfach war. Ihre Eltern sind fast verzweifelt. Ständig ging Jane ihren eigenen Weg, wollte die Welt erkunden, trotz ihres noch jungen Alters. Sie war vier Jahre alt, als sie mal wieder aus dem Garten verschwand. Sie hatte gerade noch lachend unter den Obstbäumen gespielt, da fehlte plötzlich jede Spur von ihr. Stundenlang hat man sie gesucht."

Miles räusperte sich und wandte sich vom See ab, als könnte er den Anblick nicht ertragen.

"Elijah hat sie irgendwann gefunden, natürlich hatte er sich an der Suche beteiligt. Es war genau hier, genau an diesem See. Jane trieb an der Wasseroberfläche. Sie konnte noch nicht schwimmen. Jede Hilfe kam für sie zu spät. Elijah wollte es nicht wahrhaben, dass sie gestorben war, er hat sie nicht losgelassen, hat sie solange an sich gedrückt, bis man ihn gewaltsam von ihr gelöst hat. Er hat das nie überwunden. An manchen Tagen ist er glücklich, da ist die Vergangenheit nicht so präsent. An anderen geht es ihm schrecklich, auch wenn er versucht es vor uns zu verstecken. Aber wir sind ein Rudel. Natürlich spüren wir es."

Tobias schnürte es die Kehle zu. Er musste Elijah an Jane erinnert haben. Er wollte sich nicht vorstellen, wie groß Elijahs Verlust und sein Leid sein mussten. Allein die Angst, dass Sam sterben könnte, hatte ihn bereits um den Verstand gebracht. Wie musste es dann erst Elijah ergangen sein?

"Genug aus der Vergangenheit", murmelte Miles mit rauer Stimme, seine Erzählungen waren auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen, "Ich werde dich jetzt zurückbringen, bevor du noch ernsthaft krank wirst. Du musst aus den nassen Sachen raus."

Schweigend machten sie sich auf den Weg zurück. In der Zwischenzeit konnte Tobias nicht aufhören an Elijah zu denken. Er wollte ihm sagen, dass es ihm leidtat. Der Tod von Jane, die Erinnerungen. Wollte ihm sagen, wie sehr er ihn für seine Stärke bewunderte und wünschte, er besäße sie auch.

Im Rudelhaus angekommen, steuerte er mit Miles wie selbstverständlich auf das Büro zu, doch der Beta schüttelte nur mit dem Kopf und verwies ihn zu einer Tür, ein paar Meter von dem Büro entfernt am Ende des Ganges. Ein Schlafzimmer kam zum Vorschein, welches schlicht aber gemütlich eingerichtet war. Ein Bett, ein Kleiderschrank, daneben ein Bücherregal mit einem Sessel und auf einer Seite des Bettes ein großes Fenster, von wo aus man den großzügigen Garten bewundern konnte. In dem Zimmer gab es kaum persönliche Gegenstände nur ein paar Bilder. Sie zeigten zum Teil Miles und Elijah, auch Nat und Benjamin waren dabei, sowie ein paar unbekannte Gesichter. Alle Bilder waren an die Wand geheftet worden, bis auf das Bild eines kleinen Mädchens, welches eingerahmt neben dem Bett stand.

"Da", Miles deutete auf die zweite Tür, die von dem Zimmer abging, "Ist das Badezimmer. Ich empfehle dir eine warme Dusche zu nehmen. Neue Sachen nimmst du dir aus dem Kleiderschrank."

Damit ließ der Beta ihn allein und Tobias kam seiner Aufforderung nach. Sich aus den nassen Sachen schälend, begab er sich schließlich in die Dusche und ließ das warme Wasser auf sich hinab prasseln. Es mochte seine Haut wärmen, aber sein Inneres blieb noch immer kalt. Das Chaos in seinen Gedanken kam mittlerweile einem Sturm gleich. Auf der einen Seite wollte er noch immer einen Ausweg finden und allem ein Ende setzen, aber Elijah hatte ihm zu denken gegeben. Vielleicht hatte er es sich zu einfach machen wollen. Vielleicht war es doch noch nicht der richtige Zeitpunkt. Noch schlug Sams Herz. Vielleicht gab es noch eine Chance. Mochte sie auch verschwindend gering sein.

GefangenWhere stories live. Discover now