6. Tag ~ Das Referat

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Sie sprachen nicht darüber. Laurens Körper schmerzte bei jeder Bewegung wegen ihren Brandnarben. 

"Hab ich dir schon gesagt, wie sehr ich dich liebe?" 

Oh, das hatte Dinah. Sie konnte gar nicht mehr damit aufhören.

"Du bist die beste, Mila, die allerbeste Freun- Mani!"

Dinah hatte Normani auf dem Schulhof entdeckt und rannte zu ihr. Camila verdrehte die Augen. So viel zu 'allbesten Freundin der Welt'. Camila trottete zu Dinah, betont langsam gehend. Lauren war auch da. 

Camila wusste, dass sie sich kindisch benahm, sie wusste, dass sie darüber reden mussten, sie wusste es, aber sie entschied sich bewusst dagegen. Sollte Lauren doch mit Brad glücklich werden. Interessierte sich doch nicht - Just wurde Camila klar, dass Lauren und sie heute ihren Spanischvortrag hatten, und dass sie ihr noch ein Wichtelgeschenk besorgen musste. 

"Hi.", murmelte Camila. 

"Hi.", atmete Lauren aus. 

Dinah und Normani küssten sich und schenkten ihnen keine Beachtung. Lauren und Camila sahen sich nur an, mit einer Spannung zwischen ihnen, die man nicht verleugnen konnte. Es war einfach komisch. 

"Und?", fragte Lauren. "Bist du wegen Spanisch nervös?"

Das war so ziemlich eines der schlimmsten Sachen, die Lauren hätte sagen können. Natürlich war Camila nervös. Es war ein Referat. Sie musste reden, vor Menschen. Vielen Menschen. Camila schüttelte ihre Gedanken ab. 

"Etwas."

Es kam ihr gar nicht in den Sinn zu fragen, wie Lauren sich fühlte. Ihre Gedanken rasten. Wie die Erde um die Sonne kreist, drehten sich Camilas Gedanken um ihre Angst vor dem Referat - vielleicht mit einigen Gedanken über Lauren hinzugemischt. Doch hauptsächlich Angst, und Camila hasste es. Sie wollte keine Angst haben. Es war nur ein Referat. Sie konnte das. 

"Ich auch."

"Hm?", machte Camila. Sie hatte längst vergessen, worum es ging. 

"Ich bin auch etwas nervös."

Camila nickte, obwohl sie Lauren nicht glaubte. Die Schwarzhaarige war nie nervös. 

Es klingelte zum Unterricht. Camila nahm einen tiefen Atem. Es war nur ein Referat. 

Die vier Mädchen setzten sich zu Ally nach vorne. Der kleine Sonnenschein begrüßte sie grell leuchtend. Weder Camila noch Lauren bekamen mit, wie Ally zwischen ihnen hin und her sah. 

Camila spielte mit dem Saum ihres T-Shirts. Nur ein Referat. Sie mussten nicht einmal ein Plakat oder sonstiges anfertigen. Es war ein Kurzvortrag. Oder eine längere Unterrichtsmeldung - nur vorne mit den Augapfeln der ganzen Welt auf sie gerichtet statt von ihrem sicheren Sitzplatz ajs. 

"Niemand wird zu hören."

Laurens Stimme war sanft, rau und leise. Sie war süßer Honig in der Sommerzeit. 

"Hm?"

"Es ist Spanisch, Camz.", sprach Lauren geduldig mit eben jener süßen Stimme. "Die hören eh nie zu. Und selbst wenn, sie können dich gar nicht verstehen."

Lauren hatte Recht. Verdammt, Camila war mit Spanisch in Kuba aufgewachsen! Sie konnte wohl ein Kurzvortrag über ihr Heimatland halten. 

Diesmal wirkte Camilas gutes Zugerede zu sich. Die gebürtige Kubanerin atmete tief aus, streckte den Rücken und knickte ihren Kopf von einer Seite zu anderen. Lauren folgte gebannt ihren Lippen. 

"Danke, Lo."

Die Schwarzhaarige brachte es nicht über sich, sich von Camilas Lippen zu trennen, als sie ein "Bitte" zurückmurmelte. Sie war so im Bann von der Dicke der Lippen und der unsagbaren Weiche, die sie hatten mussten, dass sie nicht bemerkte, wie die Mundwinkel nach oben gingen. 

In diesem Moment vergaß Camila Brad und alles andere außer Lauren. Man hätte sie nach ihrem Namen fragen können und sie würde die Antwort nicht kennen. Alles, was sie jetzt wusste, war, wie Laurens Lippen so minimal geöffnet waren, wie ihre grünen Augen auf ihre Lippen starrten, wie wild ihre Haare und gebannt ihr Verstand aussah. Camila wusste nur, wie das größte Kunstwerk der Welt aussah. Alles andere war vergessen. 

"So!" Señora Álvarez klatschte in die Hände und die gesamte Aufmerksamkeit des Raumes lag auf ihr. "Die Kuba-Gruppe ist zuerst. Wir fangen sofort an, ich will keine Zeit verschwenden." 

Camila blickte zu den ausdruckslosen Gesichtern ihrer Klassenkameraden. Lauren hatte Recht: Sie konnten kein Spanisch. Es war egal, was sie sagte. 

"Stell dir einfach vor, du redest mit mir.", flüsterte Lauren. 

Camila nickte. Es war ehrlich gemeint. 

"Camila, Lauren."

Señora Álvarez nickte die beiden Schülerinnen nach vorne. Sie selbst setzte sich in die hinterste Reihe mit einem Blatt vor ihr und einer Brille auf der Nase. Gute Noten waren eine Seltenheit bei ihr. 

"Por favor, comiencen." 

Fangt bitte an. 

Camila wusste nicht mehr, was sie gesagt hatte. Sie hatte nicht von ihren Notizen abgelesen, sie hatte nicht nur Fakten heruntergebrettert, sondern Leben miteingehaucht. Kuba war ihre erste Heimat, es war so viel mehr als nur ein paar Millionen Einwohner und Tourismuszahlen. Camila redete und sie glaubte, dass sie das Leben in Kuba hervorgebracht hatte. Sie war stolz auf sich. 

"... les agradezco su atención.", beendete Lauren das Referat mit ihrer Mischung von einem  amerikanischem und kubanischem Akzent, die Camila so unglaublich süß fand. 

Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit. 

Nach einigen Momenten Stille von Camila und Lauren, begriffen ihre Klassenkameraden, dass das Referat beendet war, und stimmten in Allys, Normanis und Dinahs Klatschen mit ein. 

"Fue muy bien!", sagte Señora Álvarez mit einem anerkennenden Nicken.

Das war sehr gut!

Camila grinste breit. Sie drehte ihren Kopf zu Lauren; ohne sie wäre es nicht möglich gewesen. Die Braunhaarige spürte Laurens Hand neben sich und ergriff sie. Sie war warm und weich. Überrascht blickte die Grünäugige zu ihr, doch Camila drückte nur die weiche Haut. Mit einem leichtem Lächeln blickten beide zu Señora Álvarez, die - wie immer - zwar zu kritisieren hatte, ihnen aber eine Eins für das Referat gab. 

Mit nur einem Drücken ihrer Hand hatte Camila mehr zu Lauren gesagt, als Worte Bedeutungen zu tragen vermögen. 

Wichteln - All I Want For Christmas Is YouWhere stories live. Discover now