64 Mission Familie (Epilog)

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Das hohe Gras kitzelte an ihren Füßen, die in blauen Sandalen steckten. Die wilden Grashalme wogen sich im Wind, spürten die Freiheit. Felina sah auf, streckte sich und stand ganz aufrecht da. Der Wind wehte durch ihre offene Haare und blies ihre Jacke auf.

Felina war glücklich. Obwohl sie gerade nicht glücklich zu sein hatte.

Sie standen im Schatten großer Buchen und um sie herum wurden Gebete gemurmelt. Der Priester las aus seinem Buch und segnete den Sarg, der vor ihm in den Boden gelassen wurde.

Manfred lag darin.

Die Äste über ihnen raschelten, als der Wind wieder aufzog. Es war frisch, aber nicht kalt und Felina mochte das Wetter. Sie mochte den Wind, den Himmel mit den Wolken und das Zirpen der nahen Vögel. Das war Freiheit.

Um sie herum kam Bewegung auf. Rico, der sie an der Hand gehalten hatte, ließ sie los. Die anderen, Papa, Oma und ein paar andere, die Felina nur vom Sehen kannte, stellten sich auf, reihten sich ein. Sie gingen zum Grab.

Einer der Männer hatte einen dicken Schnauzbart. Felina kannte ihn, er spielte oft in der Innenstadt auf seinem Saxophon, und auch einige der anderen waren Straßenmusiker. Es waren nicht viele da, vielleicht insgesamt zehn Leute, die Abschied von Manfred nahmen.

Rico hatte gesagt, dass die Beerdigung ein Geheimnis war, damit keine Presse auftauchen würde. Felina, Mama und er wären jetzt nämlich genauso berühmt wie Papa. Damit müssten sie jetzt leben, genauso wie sie mit allem anderen leben mussten, was passiert war.

Weil das schwer war, kam eine Frau zu Felina. Eine Therapeutin, die mit ihr über alles Mögliche sprach. Sie war nett und schenkte Felina Süßigkeiten.

Mama wurde auch von einer Therapeutin besucht, die mit der von Felina zusammenarbeitete. Gerade war Mama noch im Krankenhaus und musste sich ausruhen, deshalb war sie nicht hier am Waldfriedhof.

Etwas später musizierten Papa und die Straßenmusiker gemeinsam unter den hohen Buchen. Sie hatten Gitarren mitgebracht und der mit den Schnauzbart spielte auf seinem Saxophon. Es klang schön, wie sie sangen und die Vögel im Hintergrund zwitscherten.

Der Wind wehte wieder und blies ein paar Haarsträhnen in Felinas Gesicht. Grinsend schob sie sie zurück. Sie mochte es, draußen zu sein.

Gestern und vorgestern waren sie immer bei Mama im Krankenhaus gewesen oder bei Papa im Hotel. Einfach rausgehen durfte Felina nicht, weil da die Presse war und weil sie auch gar nicht wollte. Jetzt genoss sie es umso mehr, den Wind auf der Haut zu spüren und die Grashalme an den Füßen.

Sie hatten viel geredet, manchmal hatten sie auch nur Filme geschaut, bis Rico die Kiste mit den alten Legoteilen gebracht hatte. Ab da hatten sie hauptsächlich Lego gespielt und auch ein paar Stücke zu Mama ins Krankenhaus gebracht. Es war ein bisschen so wie früher gewesen.

Sie hatten auch darüber geredet, wie es weitergehen sollte. Mama wollte wieder öfters zu Oma aufs Land zu fahren, auch wieder so wie früher. Das wäre schön. Dort war neben dem Haus gleich eine Wiese und dahinter ein Wald mit hohen Fichten, wo Felina oft mit den Nachbarskindern gespielt hatte.

Papa sprach davon, dass Felina zu Hause Unterricht bekommen könnte. Zumindest, bis das Schuljahr endete und sich alles wieder normalisiert hatte. Er würde sich um alles kümmern, wenn Mama es erlaubte und das tat sie. Felina war froh, nicht in die Schule zu müssen.

Papa selbst würde wieder nach Amerika fliegen, aber er versprach, er würde sie ganz oft besuchen. Nur davor musste er noch etwas erledigen.

Genauso hatte Rico noch etwas zu erledigen. Er verbrachte zwar viel Zeit mit Felina, aber genauso lange hing er am Handy. Irgendwann jammerte er sogar und verriet dann endlich sein Problem: „Soll ich ihr schreiben oder nicht?"

„Wem?", hatte Papa gefragt. Er und Felina saßen auf dem Sofa und aßen Smarties, die Lars extra für sie besorgen hatte müssen. Im Fernsehen lief eine alte Folge The Simpsons.

„Lou."

Da sagte Papa: „Das Mädchen, das dir geholfen hat? Das nicht panisch vor dir weggerannt ist, obwohl du laut geschrien hast, du würdest sie küssen wollen?"

„Äh. Ja, das Mädchen. Woher weißt du das?"

Papa lachte und erzählte ihm von einem Video, das er im Internet entdeckt hatte. Gemeinsam sahen sie es an, es war von Freitagnacht, von einer Party. Rico sah betrunken aus, als er zwischen mehreren Mädchen laut verkündete: „Und ich will dich eigentlich echt nicht küssen. Ich will sie küssen." Und dabei zeigte er auf das blonde Mädchen, Lou.

Lange hatte Rico dann nichts gesagt, bis er sich endlich überwunden hatte. Felina durfte diktieren, Rico verbesserte sie zwar, aber er fragte Lou endlich, ob sie mal mit ihm ins Kino gehen wollte. Oder Eisessen. Einfach, ob sie generell etwas mit ihm unternehmen würde. Erst kurz bevor sie zum Waldfriedhof gefahren waren, war Lous Antwort gekommen.

Sie hatte ja gesagt.

Vögel sangen, Papa sang und der Mann mit den Schnauzbart blies in sein Saxophon. Ein paar Sonnenstrahlen tanzten durch das Blätterdach und tauchten alles in ein gelbliches Licht. Rico nahm wieder Felinas Hand und gemeinsam hörten sie der Musik zu, grinsten sich an.

Papa, mit der Gitarre in der Hand, zwinkerte den beiden zu und Felina dachte an ihre Mission, die Papa auch noch nicht vergessen hatte. Es würde dauern, hatte er gesagt, so wie alles dauern würde. Mit der Zeit ließ sich aber alles schaffen, auch die Mission.

Und die Mission hatte sich sowieso gewandelt. Es ging nicht mehr darum, dass Papa auf einem weißen Pferd angeritten kommt und Mama zurückerobert.

Felina wollte keine Familie wie im Bilderbuch, sie wollte ihre Familie mit all den Macken und den Problemen. Bis sie alle glücklich sein würden, dauerte es einfach noch ein bisschen, aber sie waren auf einem guten Weg dorthin.

Mission Familie lief.

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