61 Der Schuss

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Viscerocranius hatte nach Chelsea Hamilton gefragt und dieses Mal beantwortete Fill sie ehrlich - jedenfalls vermutete Viktoria das. Da schien auch kein großes Geheimnis zu sein. Fill hatte mit dieser Frau Schluss gemacht, mehr nicht.

"Du hast gesagt, die ganze Beziehung wäre nicht echt gewesen", widersprach Viscerocranius.

Eben noch war seine Stimme aus den Lautsprechern gekommen, jetzt stand er wieder hinter ihnen im Raum. In seiner Hand hielt er eine Waffe, völlig entspannt, als sei sie ein Handy oder ein Regenschirm. Irgendetwas, das man zufällig dabei hatte.

"Ja ... das stimmt." Fill zuckte leicht mit den Schultern. "So funktioniert das in Hollywood manchmal. Und meistens ist es nicht klar, ob es jetzt echt ist oder nicht, weil es irgendetwas dazwischen ist."

"Damit kennst du dich ja aus." Viscerocranius war noch ein paar Schritte näher gekommen. "Damit, deine Promiwelt gutzureden, während du den Rest verarschst."

"Äh. Inwiefern?", fragte Fill nach.

Derweil rutschte Felina etwas unruhig auf Viktorias Schoß, worauf diese sofort zuckte. Viktoria wollte es nicht zugeben, aber ihr verfluchter Rücken fühlte sich so an, als würde er verglühen. Brandwunden waren nicht schön. Besonders, wenn da auch noch verbrannter Stoff war.

Nur konnte ihr gerade niemand helfen. Sie waren im Scheinwerferlicht, und dort mussten sie stark sein. Durchhalten.

Diese Aufnahmen würden sie begleiten, und Viktoria wollte darin nicht jämmerlich zerbrechen. Wollte sich so nicht selbst sehen.

Nein. Sie kämpfte. Für Felina, für Rico, aber vor allem für sich selbst.

Nie wieder wollte sie dieser Feigling sein, der heimlich mit Schlaftabletten abhauen wollte. Und der dann so tat, als würde er nicht wissen, was er gerade versucht hatte.

"Die Medien. Du verarscht sie", hatte Viscerocranius gesagt, als Viktoria nur halb zugehört hatte. Jetzt sah sie wieder auf und beobachtete, wie Fill aufrecht stand und Selbstbewusstsein ausstrahlte. Sie musste genau hinsehen, ehe sie seine geballte Faust und seine Anspannung bemerkte.

"Ich schätze, zu einem gewissen Grad gehört das zu meiner Berufsbeschreibung."

Fills Atem ging betont ruhig, aber war das ein Zittern? Viktoria starrte ihn an, realisierte gar nicht, wie sehr sie sich auf ihn konzentrierte, bis auf einmal links von ihr ein Schatten auftauchte.

Es war Viscerocranius.

Felina klammerte sich sofort um Viktorias Hals, die die Zähne zusammen biss. Vielleicht war es auch der unfassbare Schmerz, der sie gerade stark sein ließ. Ihr Körper war abgelenkt.

Viscerocranius zeigte auf sie, sah zu Fill hinüber und sagte: "Du hast so getan, als hättest du keine Familie, während deine Familie litt."

Für einen Augenblick bewegte sich niemand. Vielleicht stand die Zeit still, vielleicht änderte das Universum seine Richtung. Staub schwebte in dem Scheinwerferlicht, schwerelos.

"Und deshalb muss sie jetzt wieder leiden?", fragte Viktoria dann aus einem Impuls heraus. "Wieso so eine aufwendige Rache an Fill? Wieso diese Show?"

"Hast du das noch nicht verstanden? Liest denn hier niemand meinen Blog?"

"Nein." Die kurze Antwort kam gleichzeitig von Viktoria und Fill, die sich daraufhin einen kurzen Blick zuwarfen.

"Nun, in der Kurzfassung muss man die Menschen hin und wieder wachrütteln, wenn sie sich auf dem falschen Weg befindet."

"Das bezieht sich konkret auf welchen falschen Weg?" Viktoria sah ihn mutig an. Woher der plötzliche Mut kam, wusste sie nicht. Vielleicht daher, weil sich in ihr Wut sammelte.

"Das Internet!", kreischte Viscerocranius.

Natürlich. Kurz hatte sie an den Klimawandel, Atomwaffen, Ausbeutung und an den Plastikmüll im Meer gedacht, hatte irgendwie gehofft, es ginge doch um etwas ganz anderes. Aber nein.

"Was hat dir das Internet getan?", fragte Fill mit betont ruhiger Stimme.

"Geht dich einen Scheiß an."

"Vielleicht interessiert das dein Publikum", kommentierte Fill.

"Vielleicht interessiert das Publikum auch, wohin die Spannung flöten geht", äffte Viscerocranius wie ein Kind und hob plötzlich die Waffe. Er zielte auf Fill, der beschwichtigend die Hände hob.

"Woah. Moment. Wenn du uns jetzt erschießt, ist die Show aus."

Viscerocranius nickte leicht. "Stimmt. Wenn ich den Star zuerst erschieße, ist das vielleicht ungünstig, aber es darf auch nicht langatmig werden."

Er schwenkte die Waffe rüber, zielte auf Viktoria. Auf ihren Kopf. Sie konnte in den Lauf der Waffe sehen, hinein in die Dunkelheit.

Viscerocranius Hand zitterte nicht. Sie steckte in einem schwarzen Lederhandschuh, und ein Finger löste jetzt die Sicherung. Das Geräusch ließ Viktoria nach Luft schnappen.

"Nein! So verlierst du auch Einschaltquoten", versuchte es Fill, aber seine Stimme hörte sich weit entfernt an. Viktorias Ohren rauschten.

Sie konnte den Blick nicht von der Waffe wenden. Ihre Arme schlang sie fest um Felina. Die Kleine drückte ihr Gesicht an die Brust ihrer Mutter, hielt sich die Ohren zu. Felina war nicht da, nicht wirklich.

Viktoria starrte weiter auf die Waffe. Vielleicht sollte sie es ihrer Tochter nachmachen. Die Augen schließen, sich wegdenken.

"Glaubst du?", antwortete Viscerocranius auf einmal. Fills Bemerkung fühlte sich Minuten her an. Womöglich Einbildung. Die Zeit verlangsamte sich, alles zog sich in die Länge.

Viscerocranius erklärte: "Viktoria stört doch ohnehin nur. Die Leute wollen Drama, du bist der Star, und Kinder sind Kinder. Viktoria hat zu sterben, und fünf Minuten sind jetzt auch um."

Jetzt kniff Viktoria wirklich ihre Augen zu. Versuchte, alles auszublenden. Die Todesangst. Den Schmerz.

Sie dachte an Rico.

Hoffentlich war er weit weg. Hoffentlich überlebte er das, stellte nichts Dummes an. Er sollte glücklich werden, aber so wie sie ihn kannte, würde ihm das schwer fallen.

Felina auch, sollte auch glücklich sein.

Vor allem sollte sie gerade nicht auf Viktoria sitzen. Felina sollte aufstehen, weggehen. Raus aus dem Raum. In Sicherheit, nicht mitansehen.

"Nein!", schrie Fill.

Er klang näher. Viktoria blinzelte, aber sie nahm kaum etwas wahr, blendete alles aus.

Da war nur die Waffe.

Und dann war da der Schuss.

Wie Glaspapier im Scheinwerferlicht ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt