Freizeitquark

137 27 4
                                    

"Schau! Dort drüben!", ruft das kleine Rumpelstilzchen freudig aus und zeigt auf einen Punkt in der Ferne. Ich folge ihrem Finger mit den Augen und sehe die Sonne, die gold glühend am Horizont untergeht. Den Himmel färbt sie dabei in ein helles Rot, was mich an Klatschmohn denken lässt. Oder an die Haare des Mädchens, das neben mir steht und bis über beide Ohren strahlt.

Nachdem Amely mich durch den halben Park gezerrt hat, sind wir nun auf einer Aussichtsplattform angekommen, von der aus man einen wirklich atemberaubenden Blick über den ganzen Freizeitpark, aber auch über die angrenzende Stadt hat. In der Ferne kann man sogar schwach Santaville ausmachen.

"Das sieht wirklich schön aus", gebe ich ehrlich zu und drehe mich einmal im Kreis. Das Rot verwandelt sich langsam in ein blasses Lila. Bald wird es dunkel werden und der Park seine Tore schließen.

Amely nickt als Antwort nur verträumt und schiebt sich eine Hand voll rosa Zuckerwatte in den Mund, die ich ihr gekauft habe, weil sie diese so sehnsüchtig beäugt hat, dass ich gar nicht anders konnte, als ihr eine Portion davon zu besorgen. Irgendwie sieht es sogar beinahe niedlich aus, wie sie so dasteht und vollkommen in ihrer eigenen, kleinen Welt versunken ist. Sie erinnert mich dabei ein wenig an ein kleines Mädchen, das an Weihnachten endlich ihre Geschenke auspacken darf.

Ich schiebe meine Hände in die Hosentaschen und trete neben Amely ans Geländer. Unter uns eilen Menschen so klein wie Ameisen durch den Park und gehen den verschiedensten Beschäftigungen nach. Von hier oben erscheint alles so unwirklich. Fast so, als wäre die Welt dort unten nur ein kleiner Schaukasten mit den verschiedensten Tieren. Harmlos und nett anzusehen.

"Es wirkt alles so friedlich von hier oben", flüstert Amely so leise, dass ich nicht sicher bin, ob sie überhaupt etwas gesagt hat oder ich es mir nur eingebildet habe. Ich betrachte ihren sehnsüchtigen Gesichtsausdruck, der auf den Horizont gerichtet ist.

"Ich weiß, was du meinst. Wenn man das hier sieht, könnte man meinen das Leben sei ein wundervolles, einfaches Geschick", nicke ich zögernd.

Amely dreht langsam ihren Kopf in meine Richtung und sieht mich zunächst etwas überrascht, dann wissend an. Dabei kann ich die goldene Sonne ausmachen, die sich in ihren klaren Augen widerspiegelt. Ihr schmaler Mund verzieht sich zu einem wehmütigen Lächeln, das mich seltsamerweise an das Bild von Mona Lisa erinnert, das Leonardo Da Vinci vor so langer Zeit verewigt hat.

Damals durfte ich dieses Genie sogar persönlich kennenlernen. Leonardo war nämlich mein erster und einziger Schüler gewesen, dem ich das Zeichnen beigebracht habe. Damals hatte ich noch mitten in meiner künstlerischen Phase gesteckt. Die war jedoch so schnell verflogen, wie sie gekommen war.

"Das ist es ja auch irgendwie", zuckt Amely mit den Schultern.

"Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Schau dir die Menschen doch an. Sie zerstören alles, was schön ist. Nimm als Beispiel deine Eltern, dann weißt du, was ich meine", erwidere ich abfällig.

"Es ist nicht wichtig, was andere tun. Es kommt ganz allein darauf an, was du aus deinem Leben machst", lächelt Amely überzeugt und nickt zur Bekräftigung.

Eindringlich mustert mich das kleine Rumpelstilzchen. Plötzlich bin ich mir ihrer Nähe nur allzu deutlich bewusst. Meine rechte Hand krampft sich fest um das Geländer vor mir, das mir Halt gibt. Ich blicke zu dem Mädchen hinab, das alles zerstört hat, an was ich die letzten Jahrhunderte geglaubt habe. Sie muss eine Hexe sein, anders kann ich mir das alles nicht erklären.

Zwischen uns befinden sich vielleicht zwanzig Zentimeter. Ich kann selbst die Schatten erkennen, die ihre Wimpern auf ihr Gesicht werfen. Amely legt vorsichtig ihren Kopf in den Nacken und ich nehme jeden Zentimeter ihres Gesichts in mir auf. Jedes Muttermal, ihre leicht schief stehenden Augen und alles Unperfekte, das sie in sich trägt. Doch irgendwie scheint mir das plötzlich gar nichts mehr auszumachen. All diese Ecken und Kanten kommen mir auf einmal so... so richtig vor. Sie ergeben eine ganz eigene, eigentümliche Schönheit, die ich nicht mehr leugnen kann.

Unsere Gesichter nähern sich langsam, ich spüre ihren flatternden Atem auf meiner Haut und die wohlige Wärme, die von ihrem Körper ausgeht, lässt meinen Körper erschaudern. Vorsichtig öffne ich meine Lippen und...

... drehe mich so schnell von ihr weg, als hätte sie mir mitten ins Gesicht gespuckt. Schwer atmend und entsetzt schlage ich mir die Hände vor den Mund und kann nicht fassen, was ich gerade beinahe getan hätte. So weit wollte ich nie gehen, um ihre Seele zu bekommen! Was ist nur in mich gefahren? Die ganze Kulisse, die Sache mit dem Schützling und dieses schwachsinnige Gelaber über das Leben müssen mich wohl völlig unzurechnungsfähig gemacht haben.

"Ich glaube nicht, dass wir etwas aus unserem Leben machen können. Es ist erbärmlich", gebe ich kalt von mir, ohne mir auch nur die Mühe zu machen, sie dabei anzusehen, "lass uns nach unten gehen, der Park schließt bald."

Ich achte nicht darauf, ob Amely mir folgt, sondern gehe einfach zu der Treppe, die mich wieder auf den sicheren Boden hinunterführen wird. Ich beeile mich so schnell wie möglich nach unten zu gelangen und setze mich dort angekommen kurzerhand auf eine Bank, wo ich darauf warte, dass das kleine Rumpelstilzchen erscheint. Währenddessen versuche ich mich wieder etwas zu beruhigen. Meine Gedanken machen mir das jedoch nicht ganz so leicht. Immer wieder sehe ich das Bild von Amely vor mir, wie sie mich mit diesem wissenden Blick ansieht, als würde sie mich voll und ganz verstehen. Aber sie versteht mich nicht. Niemand tut das.

Als Amely endlich vor mir steht, erhebe ich mich ohne ein weiteres Wort zu verlieren und wir trotten Seite an Seite schweigend zum Ausgang des Parks, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. Ich wage es nicht Amely direkt anzusehen und auch sie achtet darauf genügend Abstand zwischen uns zu wissen. So trotten wir langsam nebeneinander her, jeder in seine eigene, kleine Welt versunken, aus der es kein Entkommen zu geben scheint.

▪ ▪ ▪

Draußen angelangt bleiben wir etwas unschlüssig stehen und warten hilflos darauf, dass der andere etwas sagt. Dabei schauen wir in verschiedene Richtungen, um ja keinen Augenkontakt herzustellen. Es fühlt sich komisch an. Ich will nur noch so schnell wie möglich von hier verschwinden, weiß aber nicht wie.

Amely ist schließlich die Erste, die sich ein Herz fasst und das Schweigen bricht:

"Danke für den Tag. Er war... äh... schön."

"Das fand ich auch", füge ich schnell hinzu und trete verlegen von einem Fuß auf den anderen. Ich möchte endlich weg von hier!

"Ähm... uh... dir steht noch ein Essen zu. Habe ich dir schließlich versprochen. Äh... hast du morgen Zeit?"

Ohne zu überlegen nicke ich einfach und realisiere erst hinterher, für was ich gerade zugestimmt habe. Schnell will ich meine Zusage daher wieder zurücknehmen, als das kleine Rumpelstilzchen fortfährt:

"Gut. Dann freue ich mich auf morgen. Du kannst um dreizehn Uhr kommen. Es wird nicht so ausgefallen, wie bei dir und ich kann auch kein riesiges Haus vorweisen, aber ich werde trotzdem mein Bestes geben."

"Ähm... okay?", bringe ich nur hervor, zu mehr bin ich nicht im Stande. Amely umarmt mich daraufhin ganz kurz, dreht sich dann jedoch sofort auf dem Absatz um und eilt in Richtung Bushaltestelle davon. Eigentlich wollte ich ihr ja anbieten, sie nach Hause zu fahren, aber im Moment kann ich das einfach nicht. Ich will sie nicht noch länger bei mir wissen. Am liebsten will ich einfach nur so viel Abstand wie möglich zwischen uns bringen. Das ist alles. Ich ertrage ihre Anwesenheit im Moment einfach nicht mehr. Es reicht schon, wenn ich sie morgen wieder treffen muss. Das habe ich wirklich gut hinbekommen. Vonwegen schöner Tag im Freizeitpark. Eher ein scheiß Tag im Freizeitquark! Schlimmer hätte es wohl kaum laufen können.

Faceless - Ewige Verdammnis Where stories live. Discover now