Nicht nach Plan

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Mit einem lauten Rums fällt die meerblaue Schatulle, die ich gerade aus dem Schrank ziehen will, auf meinen Kopf und anschließend auf meinen Zeh. Ein kurzer Schmerz durchfährt mich, um gleich darauf wieder abzuebben. Mir entfährt ein lautes:

"Verdammte Kacke! So ein verfickter Scheißdreck hier!"

Fluchend hebe ich den Verursacher allen Übels auf und stelle ihn auf dem Wohnzimmertisch ab. Von dort aus scheint dieser mich hämisch zu verspotten. Gedankenverloren betrachte ich ihn von allen Seiten und kneife konzentriert die Augen zusammen. Die Schatulle ist alt, verstaubt und ziemlich ramponiert. Trotzdem liegt in ihr alles, was ich benötige, um das zu tun, was ich bereits damals schon getan habe. Vergessen. Und es ist gerade das, was ich am meisten will.

Ich möchte einfach nur alles so weit wie möglich von mir schieben und weiter machen, wie die Jahre zuvor. Und wenn ich diesen Schritt gehe, werde ich nie mehr an Rory oder Batdog zurückdenken müssen. Es ist dann alles ausgelöscht. Verstaut in einer Schublade meines Gehirns, auf die ich keinen Zugriff mehr habe. Zumindest so lange, bis ich wieder etwas in der Richtung tue, was mir in der jeweiligen Situation widerfahren ist. Aber davor werde ich mich hüten.

Es wäre die reinste Erlösung. Ich würde diesen Schmerz loswerden, der sich in mich gefressen hat, wie eine fette Made in ein Stück Fleisch. Dann könnte ich endlich wieder frei durchatmen und noch einmal von vorne anfangen. Warum also tue ich es nicht hier und jetzt? Warum zögere ich? Was hält mich davon ab?

Ich weiß es, will es aber nicht wahrhaben. Das ist doch bekloppt! Warum will ich diesen Weg auf einmal nicht mehr gehen, auch wenn er mir das letzte Mal geholfen hat?

Du willst nicht, dass du Batdog vergisst und damit alles, was mit ihm zusammenhängt. Hannah, den Hundehimmel und sogar das kleine Rumpelstilzchen.

Ja, es ist erschreckend, aber die Wahrheit. Ich will Amelys Seele besitzen, mehr als alles andere je zuvor. Mehr sogar, als damals bei Rory. Und das muss etwas heißen. Denn das Verlangen, das uns bei unserem ersten Seelenraub erfasst, ist angeblich das Größte und Unkontrollierbarste in unserer gesamten Laufbahn. Mit der Zeit lernt man sich mehr und mehr zu beherrschen und den Drang sofort über einen Menschen herzufallen, zu unterdrücken. Wenn ich mir jedoch die Sache mit Amely so ansehe, kommen mir da erhebliche Zweifel.

Immer mehr beginne ich mein Vorhaben in Frage zu stellen. Es widerstrebt mir, den nächsten Schritt zu gehen. Wenn ich nun tatsächlich alles vergesse, dann werde ich nicht einmal mehr wissen, dass ich überhaupt jemals mit dem kleinen Rumpelstilzchen gesprochen habe, geschweige denn, wer sie ist. Ich könnte ihr auf der Straße begegnen und würde sie nicht wiedererkennen. Doch so, wie das Ganze gerade läuft, kann es auch nicht weitergehen. Was also soll ich dann tun? Ich habe keine Antwort parat.

Aufgebracht springe ich auf die Füße und eile in die Küche, um mir einen Whisky zu gönnen. Als ich jedoch feststelle, dass ich gerade keinen mehr im Haus habe, entfährt mir ein genervtes Stöhnen. Wenn einmal alles schief läuft, dann aber auch gleich richtig. Langsam dürfte es mich ja nicht mehr wundern. Seit ich dem kleine Rumpelstilzchen begegnet bin, verfolgt mich das Pech auf Schritt und Tritt. Sehr nervig.

Seufzend greife ich kurzerhand zu der noch halb vollen Bacardiflasche und fülle diese mit Cola auf. Damit bewaffnet trete ich auf den Balkon hinaus und betrachte abwesend den stahlblauen Himmel. Wie gerne ich hier und jetzt einen Schlussstrich gezogen hätte. Aber ich bringe es einfach nicht über mich.

Ich gehe näher ans Geländer heran und stelle dort die Bacardiflasche ab. Von hier oben ist der Ausblick wirklich atemberaubend. Ein Schwarm Vögel, ich glaube es sind Stare, gleitet durch die Lüfte und verschwindet schließlich am Horizont. Wie gerne ich ihnen folgen und zusammen mit ihnen in den Sonnenuntergang fliegen würde. Einfach frei sein. Sich keine Sorgen um das Morgen machen müssen. Aber das bin ich nunmal nicht. Ich bin nicht frei. Ich bin hier gefangen. Gefangen in meinem eigenen Gefängnis, das sich Leben nennt und kein Ende ist in Sicht.

Kurz drehe ich meinen Kopf in die entgegengesetzte Richtung und bewundere das schöne Bild des kleinen Städtchens, das sich malerisch vor mir ausbreitet, wende mich dann jedoch schnell wieder ab. Es erinnert mich zu sehr daran, dass es noch einen anderen Ort gab, der mir einmal mindestens genauso gut gefallen hat, wie dieser hier. Wenn nicht sogar noch mehr.

Missmutig werfe ich mich auf einen Stuhl und nehme einen großen Schluck von der braunen, in der Sonne beinahe bernsteinfarben glänzenden, Flüssigkeit. Am liebsten würde ich mich einfach nur abschießen. Dieses Bedürfnis sucht mich in letzter Zeit häufiger heim. Aber was macht das schon. Meine Leber wird sowieso niemals den Geist aufgeben. Da kann ich auch saufen, so viel ich will. Für was ist man denn sonst bitte unsterblich?

Mit meiner freien Hand angle ich mir die Schachtel Zigaretten, die ich bei meinem letzten Seelenraub habe mitgehen lassen und noch immer unangerührt auf dem Tisch liegt. Ich öffne sie mit fahrigen Bewegungen, stecke mir gleich zwei Kippen zwischen die Lippen und zünde sie an. Ich muss einen klaren Kopf bekommen. Egal wie. Ich muss alles genau abwägen, bevor ich den nächsten Schritt gehe. Sonst werde ich es am Ende womöglich noch bitter bereuen.

Tief ziehe ich den Rauch in meine Lungen ein und merke sofort, dass ich mich etwas entspanne. Das Nikotin tut seine Arbeit. Nett von ihm. Wenigstens einer, der wie gewohnt das tut, was er soll.

Mit einem Aufseufzen presse ich den Rauch wieder aus meinen Lungen hervor und sehe zu, wie weiße Ringe in Richtung Himmel aufsteigen. Ziemlich hübsch anzusehen. Ich bin Meister im Rauchmuster erschaffen. Schließlich hatte ich auch genug Zeit zum Üben.

Nachdem die halbe Schachtel leer ist, widme ich mich erneut meiner Flasche und checke nebenher mein Handy. Das kleine Rumpelstilzchen hat mich wieder mit einigen Anrufen belästigt und sogar WhatsApp Nachrichten hinterlassen. Wie schön. Die Kleine kann auch nicht von mir lassen. Aber ich kann das gerade nicht gebrauchen. 

Erneut spüre ich die unbändigende Wut in mir aufkeimen, die mich bereits bei unserem gestrigen Zusammentreffen überfallen hat. Sie ist so plötzlich zurück, dass ich nicht an mich halten kann, aufspringe und den Aschenbecher vor mir mit voller Wucht in meinen Garten hinunter schleudere. Er trifft eine der schwarzen Steinskulpturen und zersplittert in tausend Stücke. Ich knirsche heftig mit den Zähnen. Diese kleine, hässliche Bitch! Sie ist die Verursacherin all meiner Probleme. Ohne sie wäre ich glücklich und zufrieden, wie die Jahre zuvor. So eine verdammte Hure!

Ich lasse mich auf den Stuhl zurückfallen und atme mehrmals tief durch. Zurzeit habe ich meine Gefühle nicht mehr unter Kontrolle. Das hier läuft eindeutig nicht nach Plan. Aber was will man machen. Das Leben ist eben nicht perfekt. Das muss wohl jeder von uns früher oder später irgendwann einsehen.

Faceless - Ewige Verdammnis Waar verhalen tot leven komen. Ontdek het nu