Erwacht

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Lilith schlug die Augen auf und schnappte nach Luft. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und Adrenalin schoss durch ihr Blut. Alles drehte sich und ihr Kopf schmerzte wie verrückt.
Das erste Gefühl war Angst. Sie hatte panische Angst, aber wovor? Alles war einfach durcheinander.

Lilith wusste weder, wie lange sie schon hier war, noch wie sie hierhergekommen war. Ganz zu schweigen davon, wo 'hier' war. Dies wäre eigentlich noch erträglich gewesen, wenn sie sich an andere Dinge erinnern könnte.
Tatsache war, dass Lilith weder wusste, was sie vor ihrem Erwachen getan hatte. Es war jegliche Erinnerung an die Zeit vor dem Jetzt verschwunden, als wäre sie nie da gewesen. Nur ein Name hallte in ihrem Kopf und Lilith wusste, es war ihrer. Jegliche Versuche, sich an etwas anderes zu erinnern, bereiteten ihr Kopfschmerzen und Schwindel. Die gähnende Leere in den Erinnerungen würde Lilith fürs Erste hinnehmen müssen.
Als sie sicher war, dass der Schwindel halbwegs abgeschüttelt war, setzte sie sich langsam auf, wobei lockerer Neuschnee von ihrer Kleidung rieselte und zu Boden fiel. Als die Hand, mit der sie sich abstützte, den kalten Schnee berührte, hob Lilith den Kopf um sich genauer umzuschauen.

Der Ort, an dem sie erwacht war, schien komplett mit Schnee bedeckt zu sein. Eine Lichtung, inmitten eines Wäldchens, mit einem kleinen See in der Mitte. Dieser war komplett zugefroren. Auf der gegenüberliegenden Seite des Sees thronte ein großer, kahler Baum. Man konnte sich nur vorstellen, welche Früchte er einst getragen hatte, bevor jegliches Leben in ihm in einen eisigen Schlaf gefallen war.
Der Himmel war grau und es rieselte kleine Schneeflocken auf die Erde, während ein leichter Wind den flocken gleichmäßig die Richtung vorgab. Die Neugier packte Lilith und sie stand betont behutsam auf. Ihr Körper reagierte und die Gelenke erwachten aus der eisigen Starre. Als sie aufrecht stand, klopfte sich Lilith den restlichen Schnee von der Kleidung, welche dick und angenehm zu tragen ausgefallen war. Ein Kapuzenmantel, eine Hose aus eben dem selben Stoff, Handschuhe und Fellstiefel schützten sie vor der Kälte. Wer auch immer Lilith hier zurückgelassen hatte, musste darauf geachtet haben, dass sie nicht erfror. Wer es tat, ob jemand anderes oder gar sie selbst, stand in den Sternen.

Zuerst tat sie einige vorsichtige Schritte, damit ihr Körper sich wieder an die Bewegung gewöhnte, die anscheinend lang ausgeblieben war. Als der erste Schwindel vorüber gezogen war, wurde es besser. Der Körper erinnerte sich seiner lang erlernten Funktionen und begrüßte das Leben, welches ihn seit seinem Erwachen wieder durchflutete. Mit jedem Schritt flaute auch die Angst langsam ab. Es schien, als hätte nur ihr Geist verrückt gespielt.
Es fühlte sich an wie das Erwachen aus einem langen Traum, der mehr als lang genug gewesen war. Ein Traum, der sie für wahrscheinlich lange Zeit nicht mehr hergegeben hatte. Warum ihr das passierte, würde sie hoffentlich herausfinden. 

Lilith ging einige Schritte am See entlang und ließ verträumt ihren Blick schweifen, über das spiegelglatte Eis, über den großen Baum, über den Himmel und den leichten Schneefall, der nicht nachließ. Als die Gedanken wieder ihren Weg zurück in Liliths Aufmerksamkeit fanden, fand sie sich unter dem großen Baum wieder. Es hatte sie einfach zu ihm hingezogen. Warum, konnte sie sich nicht erklären und wollte sie auch gar nicht.

Seine Äste ragten viele Meter über Lilith in den Himmel und die Pflanze wirkte noch einmal größer, als von Weitem zu erkennen. Der Stamm war so dick, fünf Mann hätten ihn nicht mit den Händen umschließen können. Er hatte eine sehr dunkle Rinde, welche im Schnee allerdings nicht besonders auffiel. Sie wirkte grau und trist.

Trotzdem erfasste Lilith der Impuls, die Rinde mit der flachen Hand zu berühren. Es war ein Verlangen gepackt mit Neugier, was sie veranlasste, nachzugeben und sich dem Stamm zu nähern. Irgendwie war ihr, als wäre sie schon einmal an diesem Ort gewesen. Diese Stelle kam ihr auf merkwürdige Weise bekannt vor. Als die pochenden Schmerzen wieder anfingen, ihre gierigen Arme nach Liliths Kopf auszustrecken, verwarf sie wieder jegliche Gedanken an Erinnerung und tat, was sie eigentlich vor hatte.

Melodie des ErwachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt