zwanzig

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Stunden später wachte ich auf und die späten Sonnenstrahlen schienen mir auf die Augenlider. Ich blinzelte, schleppte mich aus dem Bett und dachte nach. Keine Lust irgendwelche Freunde anzurufen und mit denen etwas zu unternehmen. Mein wehmütiger Blick wanderte nach oben. Kein Anzeichen von einem Gewitter. Aber alleine einen Spaziergang zu machen war auch öde. Jedoch hatte ich auch keine Lust hier in der Wohnung zu versauern.

Spontan beschloss ich doch raus zu gehen. An der frischen Luft, konnte ich wieder klare Gedanken fassen. Einkaufen, das lenkte mich ein wenig ab. Brachte mich vielleicht auf andere Gedanken. Wie von der Tarantel gestochen durchwühlte ich meinen Kleiderschrank. Das einzige was für das Wetter zu finden war: ein kurzer geblumter Rock.

Ein stechender Schmerz zog sich quer durch meinen Brustkorb und meine Kehle schnürte sich eng zusammen. Zu kurz, viel zu knapp, schoss es mir durch den Kopf. Mit einem mehr als nur mulmigem Gefühl zog ich ihn heraus und legte ihn vor mir auf das Bett. Der Kloß in meinem Hals wuchs, als ich ihn betrachtete und das mit einer Mischung aus Skepsis und Angst. Das Blumenmuster kaschiert vielleicht meine breiten Oberschenkel. Vielleicht.

Unentschlossen biss mir auf die Lippen, bis ich Blut schmeckte. Sollte ich ihn wirklich tragen? Würde ich den spöttischen Blicken der Passanten standhalten? Den Bemerkungen? Den gehässigen Kommentaren, die fallen würden?

Überhaupt, er stand mir sowieso nicht. Zu meinen braunen Haaren passte er ohnehin nicht.

Nach genauem vor- und abwägen entschied mich doch für den Rock, schließlich war das andere alles in der Wäsche oder passte nicht mehr. Diese Feststellung ließ mich kurz lächeln.

Ja, ich hatte abgenommen. Zwar nur 0,3 Kilogramm, aber dennoch. Drei Tagen sehr wenig Fett und Zucker gegessen, außer täglich etwas Magerquark und eine Scheibe kalorienarmes Knäckebrot. Dann hatte sich die Qualen in den letzten Tagen wohl doch gelohnt! Zudem habe ich gejoggt und das täglich. An meiner Kondition musste ich allerdings noch etwas arbeiten.

Über meinem Bett habe ich gestern ein Foto von Toni Garrn gehängt. Auf dem Bild modelte sie für eine bekannte Unterwäschenmarke. Die Unterwäsche mit den bestickten Glitzerpartikel verlieh ihr dieses Gewisse etwas. Verlieh ihr einen Glanz. Sie lief auf dem Laufsteg wie ein strahlender Stern. Wie ein Engel. Ich bewunderte sie für so vieles.

Toni war eine Naturschönheit. Braun gebrannte Haut, strahlend weiße Zähne, ein Gesicht, für das sie bewundert musste und eine Figur, bei der es mir den Magen umdrehte, so neidisch wurde ich. Doch das war bei weitem nicht alles. Sie war selbstbewusst, so unglaublich attraktiv, so selbstsicher und schlank. Alles was ich nicht war, was mir fehlte, was ich gerne hätte. Sie war mein Vorbild, mein Idol. Ich wollte genauso sein wie sie.

Perfekt, schoss es mir da durch den Kopf.

Die spöttischen Blicke der Passanten lagen auf meinen Beinen. Einzig und alleine auf ihnen. Es war mir unangenehm. Ach, was sagte ich. Es war eine Qual und die Blicke schnitten wie tausend Messerstiche auf meine nackte Haut.

Alles an diesem Rock war komisch oder war es doch ungewohnt? Das Gefühl ihn anzuhaben war seltsam. Plötzlich kam ich mir billig, erbärmlich und peinlich vor. Dachte ich denn ernsthaft das ich darin gut aussehen würde? Nein, das war Einbildung oder eine Illusion, mehr nicht.

Die Blick waren erniedrigend, abschätzig, spöttisch. Sie zerstörten mich innerlich. Gedankenverloren schüttelte ich den Kopf, als ob die Leute damit wegschauen würden. Doch das war Schwachsinn. Sie sahen mich nur noch durchdringender an.

„Ey, ich glaub, der meint dich!" kam es von der Seite und ich zuckte zusammen. Irritiert drehte ich mich zu der Stimme. Ein junges Mädchen, vielleicht ein, zwei Jahre älter als ich. Automatisch glitt mein Blick zu ihren Beinen, blieb dort hängen. Ihre Beine waren so lang, unglaublich schlank, nein, sie waren schmal, so zierlich.

Sie deutete in das Fenster eines Cafés hinter mir. Seine Mundwinkel hoben sich schon automatisch wie aus Reflex, als er mich erblickte. Benommen und wie im Trance stolperte ich in das Café. Es war ungewöhnlich wenig los. Zwei ältere Damen reckten die Köpfe, als die Tür über mir bimmelte und ich versuchte deren Getuschel zu ignorieren.

Gerüche stiegen mir in die Nase. Frischer Bohnenkaffee,  Schokoladenduft. Süßgebäck wie Donuts stachen mir mit einem scheuen Blick in die Theke ins Auge. Ich glaubte den Zucker förmlich riechen zu können. All diese Sachen reizten meine Psyche bis auf's Mark. Spielten mit meiner Selbstbeherschung, meiner Disziplin.

Breit lächelnd ging ich auf Harry zu, obwohl ich in einer ganz anderen Stimmung war, als zu lächeln. Stürmisch umarmte er mich, wie eine alte Freundin. Wie gute Freunde in einer Clique. Sind wir denn noch zusammen? Diese Frage konnte ich mir selbst im Stillen beantworten.

„Hunger?" war die erste Frage und er überrumpelte mich damit. Wie wär's mit alles okay oder sowas in der Art.

„Ne-" Harry unterbrach mich, indem er direkt aufstand, meine Hand nahm und mich hinterher zog. Wie ein Besitzer seinen Hund. Ich fühlte mich wie ein hilfloses Kleinkind.

Mein Blick fiel in das Glas der Vitrinen. Ich war der Versuchung praktisch hilflos ausgesetzt. Obwohl es sich hierbei lediglich um ein Stück Kuchen handelte, machte mich die Tatsache das ich es essen musste, verrückt.

Harry bestellte einen Schokoladenkuchen und ich brachte ein paar Augenblicke, um zu registrieren, dass er für mich gedacht war. Einfach so, ohne mich zu fragen, ohne nachzudenken, ohne mir Gedanken darüber machen zu können. Verzweifelt und wütend zugleich biss ich mir auf die Lippen.

Meine Augen suchten ein letztes Mal hilflos nach etwas kalorienarmeren. Ein Apfel - Zimt - Muffin. Wenigstens etwas einigermaßen gesundes, wenn man das überhaupt noch gesund nennen konnte.

Meine Gedanken wanderten wieder zu Toni Garrn. Sie hätte sich das nicht erlaubt. Niemals! Und ich - pf, ich schlug mir bei der erstbesten Gelegenheit den Magen voll. Schämen sollte ich mich.

„Kann ich nicht den Muffin haben Harry?"

Er schmunzelte, sah mich gedankenverhangen an und strich sanft mit dem Daumen über meine Hand. „Babe, ich hab' bereitd gezahlt."

Okay, also gut. Wir liefen zum Tisch, ich setzte mich und musste mich zusammenreißen, nicht mit dem Fuß gegen das Tischbein zu schlagen. Meine Lippen presste ich zu einem schmalen Strich zusammen, als würden sie sagen: Nein, den esse ich nicht, und betrachtete den Kuchen.

So ein kleines Stück, soviel Zucker, soviele Kalorien, soviele Dickmacher. Harry wollte wohl das ich noch fetter werde. Warum zur Hölle tat er mir das an? Mit einfach einen Kuchen bestellen. Was fiel ihm ein? Aufregen könnte ich mich darüber..

Sein bohrender Blick holte mich zurück in die Realität, durchdrang mich förmlich. „Iss doch etwas, Rose."

Ich brach ein Stück ab. Wobei klein untertrieben war. Mehr als 2 x 2 Centimeter minimum. In meinem Kopf drehten sich die Gedanken in Endlosschleife. Wie viele im ganzen Stück waren, wie viele auf meiner Gabel lagen, wie lange ich dafür joggen musste.

Betreten musterte ich es stumm auf der Gabel. Ich zog die Stirn kraus. Wieviele Kalorien jetzt wohl darin enthalten sind? Ich musste mich mehr darüber informieren. Harrys Augen verfolgten jede Bewegung meinerseits. So als ob er nachprüfen wollte das ich wirklich esse.

In diesem Moment knurrte mein Magen und zwar so laut, dass Harry es wohl kaum überhört haben konnte. Ich fühlte mich schwach und kauerte mich tiefer in den Stuhl. Ich konnte nicht wiederstehen. Ich konnte es einfach nicht! Und dafür schämte ich mich. Wollte mich am liebsten in mein Zimmer verstecken oder in ein Loch unter mir stürzen.

Ich sah auf meinen Teller und betrachtete die kleinen Krümel darauf, welche noch zurückgeblieben waren. Hatte ich etwa den ganzen Kuchen in mich hinein gestopft? Wie man Müll in eine Tonne stopft, so fühlte ich mich. Wie eine lebendige Tonne.

Ohne länger nachzudenkenIch rannte verzweifelt auf die Toilette. Leute starrten mich wie eine Verrückte an, egal. Der Kuchen muss raus, die Kalorien, das Fett, der Zucker. Das zählte jetzt!

Ich stürzte mich in die Kabine, schloss ab. Zittrig hob ich den Toilettendeckel nach oben. Schob meinen Finger in die Kehle, schloss die Augen und übergab mich. Endlich! Plötzlich hörte ich eine bekannte Stimme hinter mir.

„Rosie?"

I hate it to be hungry #Wattys2015Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt