Rico kniff sich die Augen zu und versuchte, den Anhänger mit dem Buchstaben H zu entdecken, aber sein Blickwinkel war schlecht.

Jetzt richtete sie sich etwas auf, warf nochmal einen Blick auf die Karikatur. Wahrscheinlich bekam sie volle Punktzahl.

Zögernd schaute Rico auf sein eigenes leeres Blatt. Er hatte lächerlich wenig Ahnung. Irgendwann begann er doch, sich der Aufgabenstellung etwas mehr zu widmen. Notierte seinen Namen, das Datum und schrieb weiter.

Er improvisierte und irgendwie kritzelte er das Blatt voll, mit seiner kleinen, krakeligen Schrift.

Jemand ließ einen Stift fallen, riss Rico aus dem Fluss. Er wollte sich wieder seiner Klausur widmen, als er Lous Blick in Richtung Uhr bemerkte. Sein Herz stockte. Ihre Sommersprossen lachten stumm, aber ihre Augen wirkten traurig, leer.

Rico versuchte ein Lächeln, irgendwie schief und schüchtern, völlig fehl am Platz, aber sie bemerkte ihn gar nicht. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schrieb wieder. Er beobachtete sie regungslos.

Frau Scheidt räusperte sich. „Noch zehn Minuten."

Unruhe breitete sich im Raum aus. Blätter wurden gedreht, geschoben. Jacken raschelten, das Fenster wurde geschlossen. Draußen liefen die ersten Schüler in die Pause. Die Zeit verging.

Rico kaute auf seinem Stift, hörte nicht zu, was die Scheidt sprach. Er beobachtete Lou, die gehetzt ein paar Zeilen durchstrich und eine Fußnote einfügte, während die ersten Klausuren eingesammelt wurden.

„Alter, bist du anwesend?" Sam winkte vor Ricos Gesicht herum. Der zuckte zusammen, blinzelte. „Sorry."

„Ich erwarte jetzt dann gleich eine Erklärung von dir, das weißt du?"

„Jungs, Ruhe! Manche schreiben noch. Jetzt gebt mir eure Arbeiten und schleicht euch raus."

Sam hob seine Hand an die Stirn. „Aye aye, Captain!"

Auf dem Pausenhof erwartete sie strahlender Sonnenschein. Rico wollte sich zu den Klassenkameraden gesellen, die über die Klausur sprachen, Antworten verglichen und die Aufgabenstellungen beschimpften.

Sam dagegen hatte andere Pläne und zog ihn weiter. Fünftklässler schrien etwas Unverständliches über den Hof und rannten sie fast über den Haufen.

„Hey Rico, Sam." Ein Mädchen holte sie ein, Vany. Sie grinste und lief neben ihnen her, überholte sie fast. „Wie ging's euch?"

Die beiden blieben stehen, wie Vany es gewollt hatte und zog ihre Aufmerksamkeit auf sich und ihren Ausschnitt, der nur spärlich von ihren rotgefärbten Haaren verdeckt wurde. Sie trug eine silberne Kette mit einem kleinen Stern als Anhänger. Er lockte noch mehr, ihr auf die Brüste zu sehen.

Sam räusperte sich. „Gut. Hey, lässt du uns kurz mal allein?"

Damit war sie nicht einverstanden. Schmollend verzog sie ihren Mund. Ihre grauen Augen funkelten weiter frech, als sie sagte: „Und wenn ich jetzt nein sage?"

„Sorry." Rico schüttelte den Kopf und schob sich mit Sam an ihr vorbei. Kurz drehte er sich noch um. „Wir sehen uns nachher." Vielleicht.

„Fuck you!", rief Vany ihnen hinterher, grinsend.

Sam und Rico verließen den Hof am westlichen Ende, wo sie bis zur nächsten Straßenkreuzung schlenderten. Dort war nicht viel Verkehr, dafür tummelten sich hier die Raucher – sowohl Oberstufenschüler als auch Lehrer.

Sam zog es noch ein kleines Stück weiter, damit sie ungestört reden konnte, erst dann blieb er stehen und packte eine kleine Schachtel Zigaretten aus. „Willst du auch?"

„Ne." Rico schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme. Er wartete, bis sein Kumpel sich eine angezündet hatte und zweimal tief eingeatmet hatte, dann begann Sam endlich:

„Also, zwei Dinge. Erstens, stehst du noch auf Lou?"

„Nein." Rico presste die Kiefer aufeinander, wartete ab. Sein Kumpel beobachtete ihn eine Weile skeptisch, nickte dann. „Okay. Warum prügelst du dich dann mit Hendrik und am nächsten Tag höre ich, dass die beiden Schluss gemacht haben?"

„Echt?" Das hatten sie also jetzt wirklich? Dieser Vorfall im Wald ... hatte Hendrik ihr da tatsächlich den Laufpass gegeben? Oder Lou ihm? Fakt war, Hendrik hatte bei der Party schon mit Mädchen aus der Stufe unter ihnen geflirtet, zumindest, bis Rico ihn entdeckt hatte.

„Jap, Lou ist wieder single." Sam kniff die Augen zu, als er weiter seinen Freund fixierte. Dem stieg die Röte ins Gesicht. Musste er so starren? Er stand nicht auf Lou, zumindest wollte er sich das einreden. Nur ... jetzt konnte er sich wieder Hoffnungen machen, oder?

„Naja." Sam lehnte sich etwas entspannter zurück, zog an seiner Zigarette. „Damit ist das vorerst beantwortet."

Was sie zum zweiten Punkt brachten. Rico jagte es eiskalt den Rücken hinunter, denn dieses Thema gefiel ihm womöglich noch weniger.

„Cielo Vaz hat dich kritisch lange angestarrt. Als hätte er dich gekannt oder erkannt oder was weiß ich. Und du bist recht überstürzt abgehauen und hast auf keine Nachrichten reagiert."

Rico senkte schuldbewusst den Blick und beobachtete die Asche, die von Sams Zigarette auf den Asphalt rieselte.

„Deswegen habe ich recherchiert", fuhr Sam fort. „Vor exakt achtzehn Jahren gab es mal ein Gerücht, dass Cielos Ex schwanger gewesen wäre, aber das war irgendwie im Keim erstickt. Irgendwann gab es dann wieder einen Skandal. Viktoria Vaz gemeinsam mit einem kleinen Jungen auf dem Spielplatz. Angeblich der Sohn ihrer Schwester, die auch mit auf dem Foto gewesen war. Könnte man alles glauben."

Er schüttelte fassungslos den Kopf. „Weißt du, als du vor ein paar Jahren neu in die Klasse kamst, haben die Mädchen oft von einer Ähnlichkeit mit Cielo Vaz gesprochen. War nur dämliches Gerede, immerhin wohnst du hier in 'ner Bruchbude und nicht in L.A. oder so."

„Irgendwer hat auch mal gesagt, du schaust aus wie Drake Bell", widersprach Rico. „Bist du deswegen mit ihm verwandt? Nein."

Sam schmunzelte. „Du aber schon, oder? Er kannte dich und du wolltest ihm keine einzige Sekunde unter die Augen treten." 

Wie Glaspapier im Scheinwerferlicht ✔Where stories live. Discover now