Kapitel 20

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"Wohin gehen wir?"

"Das ist eine Überraschung.", antwortet Henri mir. Dann drückt er mir einen Thermobecher in die Hand. "Wir werden eine Weile laufen. Ich dachte du willst Kaffee dabei haben."

"Danke.", antworte ich überrascht während ich den warmen Becher entgegen nehme. Ich trage eine Jeans und einen Pulli, draußen ist es noch kalt und ich schnappe mir noch eine Jacke ehe wir raus gehen. Henri hält mir die Tür auf und ich beginne die Treppe runter zu laufen. Dabei versuche ich so leise wie möglich zu sein. Ich möchte niemanden um diese Uhrzeit wecken. Unten angekommen drehe ich mich zu Henri. Er zeigt nach rechts und blickt zu mir. Dann läuft er los, nach rechts - wo auch immer uns das hin bringt. Wir laufen eine ganze Weile still nebeneinander her. Bis es zu nieseln beginnt und Henri seine Jacke auszieht.

"Wenn ich es geschickt anstelle werden wir nicht all zu nass.", sagt er und hebt seine Jacke über uns beide gespannt. So nah wie jetzt gerade war ich ihm schon lange nicht mehr. Es ist umständlich so nah beieinander zu laufen immer wieder stoßen wir ungeschickt aneinander und treten und gegenseitig auf die Füße. Es wäre um einiges leichter einfach meine eigene Jacke über meinen Kopf zu halten - aber auf keinen Fall möchte ich diese Nähe verlieren. Ganz im Gegenteil, ich möchte jede Sekunde davon genießen. Wir laufen durch kleine Gassen mit hübschen Brunnen. Alt wirkende Gegenden, mit wunderschönen kleinen Häusern. Hin und wieder ein Graffiti an einer Fassade. In den Boulangerien brennt bereits Licht. Draußen ist es noch dunkel. Der Regen wird von Schritt zu Schritt stärker und von Henris Jeansjacke tropft es schon auf uns. Wir tauschen einen Blick und rennen dann lachend unter das Vordach einer Tür.

"Oh man.", sagt Henri.

"Das kannst du aber laut sagen.", antworte ich lachend.

"Oh man!", wiederholt er viel zu laut.

"Was machst du denn?", sage ich belustigt und schockiert gleichzeitig.

"Was auch immer du sagst.", lacht er flüsternd.

"Du spinnst doch.", flüstere ich.

"Vielleicht.", antwortet Henri mir ebenfalls flüsternd. Dann streicht er eine nasse Strähne aus meinem Gesicht hinter mein Ohr, wo sie kühl auf meine Haut trifft. Ich traue mich nicht hoch zu sehen. "Wenn wir rennen können wir in einer Minute da sein.", sagt Henri schließlich. Ich schaue zu ihm und nicke. Er nimmt meine Hand und wir rennen los. Als der Regen auf mich prallt gebe ich einen lauten Schrei von mir und lache los. Den Blick auf den Boden gerichtet, damit mit der Regen nicht die Sicht nimmt und natürlich damit ich nicht auf der Nase lande.

Meine Haare sind ganz durchnässt, als Henri plötzlich stehen bleibt. Wir stehen vor einem Hotel. Henri zückt sein Handy und wählt eine Nummer. Wenige Minuten später taucht ein Junge in unserem Alter vor der Tür auf. Er macht eine Geste und Henri folgt ihm. Henri wiederum macht eine Geste und ich folge ihm. Die Frau an der Rezeption sagt nichts, obwohl wir nicht einchecken. Wir gehen die Treppen hoch und in einer Etage, die ich für den achten Stock halte gehen wir durch eine Tür. Hinter dieser Tür erwarten uns weitere Treppen. Auch diese steigen wir ein paar Stockwerke hoch, bis wir vor einer anderen Tür stehen. Dort dreht sich der Unbekannte zu Henri um. Sie klopfen sich zum Abschied auf die Schultern und Henri bedankt sich. Der Junge wünscht uns viel Spaß und lässt uns alleine.

"Bereit?", fragt Henri, den Kopf zu mir gedreht.

"Bereit.", antworte ich.

Henri drückt den Henkel der Tür runter und mir weht kühle Luft durch den geöffneten Spalt entgegen. Es muss ins freie führen. Als Henri hinaus tritt erhasche ich einen Blick nach draußen. Der mir leider nichts verrät, weil es so dunkel ist. Trotzdem folge ich Henri und schaue mich links und rechts um. Nur sehe ich eben nicht viel. Dann fällt mein Blick nach vorne und mein Atem stockt. Vor meinen Augen erstreckt sich Paris. Der Sonnenaufgang zieht bereits seinen ersten feurigen Streifen durch die Gebäudefront und im dunkelblauen Himmel hängt ein hauchdünner Halbmond. Mir fehlen die Worte zum denken. So schön sieht das aus.

"Wow.", flüstere ich. Als wäre das sein Stichwort betätigt Henri einen Lichtschalter. An den Seiten gehen Lichter an. Lichter, die aussehen wie tausend Sterne direkt neben mir. Und dann erkenne ich die Dachterrasse richtig. Sie steht voll mit weißen, kleinen, runden Tischen - wie in einem französischen Bistro. Die meisten Stühle sind noch an den Tisch gelehnt. Aber ein Tisch ist gerichtet. Auf ihm stehen Blumen, Croissants, Marmelade, Kaffee und Saft.

"Wann hast du das organisiert?", frage ich Henri. Er steht hinter mir aber ich starre noch den Tisch an.
"Vor ein paar Stunden.", antwortet Henri. Dann drehe ich mich zu ihm. Im zarten Licht sieht er ein paar Jahre jünger aus als sonst. Sogar die Wunde an seinem Kopf wirkt hier weniger schlimm.

"Wieso?", frage ich.

Er macht einige unsichere Schritte auf mich zu. Dann bleibt er einige Schritte von mir entfernt wieder stehen. Schaut zu mir hoch und blickt mir entgegen. Sein Blick verrät, das er sich unschlüssig ist was er sagen soll. Er schaut nach rechts zur Wand. Dann nach links zum Sonnenaufgang. Und dann scheint er sich ein Herz zu fassen. Er dreht sich zu mir und kommt noch einen Schritt auf mich zu.

"Es ist eine Entschuldigung und ein Date.", antwortet er.

Meine Mundwinkel ziehen sich in die Höhe und ich werfe dem Boden ein Lächeln zu.

"Ein Date.", wiederhole ich flüsternd.

"Genau.", sagt er.

Dann kommt er noch einige Schritte auf mich zu.

AURORAWhere stories live. Discover now