Kapitel 6

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Was ich dann spüre, würde ich mit Geborgenheit beschreiben. Henri legt seinen Arm um mich und so sitzen wir eine ganze Weile so da. Und genießen den Moment. Dann öffne ich irgendwann meine Augen wieder. Es ist dunkel und man sieht nur noch glitzernde Lichter über dem Wasser. Weit und breit keine Sonne mehr. Plötzlich bewegt sich Henri. Und ich frage mich, wie er so lange in einer Position sitzen konnte. Und dann spüre ich seine Hand auf meiner Stirn, wie er eine der Locken, die immer aus dem Zopf schlüpfen hinter mein Ohr streicht - und mir einen Kuss auf die Stirn gibt. So zart, dass ich meine es mir eingebildet zu haben. Aber ich beschließe ganz fest an dieser Erinnerung fest zu halten.

Die nächsten Tage vergehen wie im Flug. Was mir dabei auffällt, sind meine Gedanken. Alles scheint sich plötzlich um Henri zu drehen. Das Meer ist plötzlich nicht mehr blau, sondern fast so grün wie Henris Augen. Die Lieder die Henri mir gezeigt hat sind nicht irgendwelche Lieder, sondern eben die Lieder, die Henri mir gezeigt hat. Immer wieder höre ich sie und versinke in Gedanken, was wir alles zusammen erleben könnten. Was wir alles zusammen sehen könnten. Wohin wir reisen könnten. Ibiza - das steht nun schon auf der Liste. Es ist Sonntag Abend und ich liege im Bett. Morgen früh um 5 Uhr stehen wir alle auf. Dann geht es los. Meine erste Reise mit Henri.
Die Nacht vergeht schnell und so sitzen Roxy und ich nun am Esstisch. Eingepackt in Hoodie und Leggins. Unsere Carry Ons samt Tasche und Kissen neben uns. Wir warten auf Rose und Henri, die irgendwie länger brauchen als wir. Dabei läuft uns die Zeit bereits davon.
Dann stürmt Rose plötzlich perfekt gestylt die Treppe runter. Öffnet eine Schublade in der Küche und rennt wieder hoch. Wohl bemerkt - ohne etwas zu nehmen. Roxy und ich blicken uns an und müssen lachen wie lange nicht mehr. Das tut gut, denn viel zu lange schon sind Roxy und ich etwas distanziert. Seit meiner kleinen Flucht vor Cindys Drama haben wir nicht viel geredet und ohnehin ist es doch immer komisch nach solchen Dingen. Wir lachen also und plötzlich ist es wieder wie immer.
"Am besten gehen wir einfach schon.", schlägt Roxy vor.
"Direkt an den Flughafen - am besten.", antwortete ich. Noch mehr lachen.
Dann kommt Henri runter.
"Rose ist gleich soweit. Sie sucht irgendetwas. Aber sie meint immer wieder, wenn sie es in zwei Minuten nicht findet ist es egal.", sagt er.
"Das kann noch lange so gehen.", antworte ich.
Dann kommt sie aber tatsächlich schon und unsere Reise geht los. Von meinem Dad habe ich mich gestern schon verabschiedet.

Roxy fährt zum Flughafen. Rose sitzt vorne. Henri und ich hinten. Dort treffen wir Maxwell und seine Mum, Mrs Hughes. Wir nennen sie Lizza. Ich starre die ganze Fahrt über nach draußen, wie ich es immer tue. Dieses Gefühl, einen Ort zu verlassen fesselt mich. Es bringt mich dazu jedes Detail noch einmal sehen zu wollen. Den dunklen Asphalt, der gelbe Streifen zwischen Gehweg und Straße. Die Palmen und das Meer. All das sehe ich jeden Tag. Und was mich jetzt noch einmal schauen lässt ist, die Tatsache, dass ich so weit weg sein werde. Es ist gar nicht die Zeit, die ich weg bin. Es ist die Distanz. Was wenn ich irgendetwas hier vermisse? Dann bin ich tausende von Kilometern davon entfernt. Gedanken verloren blicke ich nach rechts. Und sehe wie Henri mich anschaut. Beziehungsweise sofort weg schaut. Um mein Herz herum wird es ganz warm. Unweigerlich frage ich mich, wie lange er schon geschaut haben muss. Dann schaue auch ich weg. Wieder raus aus meinem Fenster auf L.A, dass ich jetzt verlasse.
Am Flughafen angekommen rollen wir alle mit unseren Koffern durch die Menschenmassen von Counter zu Counter, bis wir endlich vor dem Gate warten. Roxy schläft an meiner Schulter ein während wir warten, Maxwell spielt ein Spiel an seinem Handy und Henri ist in ein Buch vertieft. Er sitzt mir gegenüber und das erste Mal, seit dem er hier ist, ist seine Kette über seinem Shirt. Ich versuche sie zu entziffern, aber der Abstand ist zu groß.  Solche Ketten trägt man doch nur, wenn man eine Freundin hat. Da kommt dann das Datum vom ersten Date drauf. Aber ich kann es ja nicht lesen. Immer wenn wir zusammen sind steckt die Kette unter seinem Shirt und wenn wir schwimmen gehen trägt er sie nicht. Ich hoffe wirklich noch lesen zu können was da drauf steht, denn es hat meine Neugier schon am ersten Tag geweckt. Nach einer Weile geht es los. Wir laufen in den Flieger. Maxwell und Roxy sitzen eine Reihe hinter mir. Ich sitze am Fenster - neben Henri. Das wir interessant. Vielleicht komme ich ja dazu zu lesen, was auf seiner Kette steht.
Mein Lieblingsmoment beim Fliegen ist das Abheben. Dieser Moment wenn plötzlich alles leicht wird. Henri macht es sich neben mir mit einem Kissen gemütlich und verschränkt die Arme vor der Brust. Natürlich vor seiner Kette. Auch ich mache es mir gemütlich. Ich nehme mein Nackenkissen und meine Schlafmaske. Ich hatte heute Nacht definitiv nicht genug Schlaf. Also werde ich jetzt versuchen zu schlafen. Wie immer geht das ganz schnell und als ich wieder aufwache finde ich mich auf Henris Schulter wieder. Ach du! Auf Henris Schulter! Also wirklich, konnte sich mein schlafender Körper nicht für das Fenster entscheiden? Ich schrecke hoch und Henri schaut von seinem Buch hoch.
"Hey, Schlafmütze.", sagt er. Super, denke ich mir.
"Hi.", antworte ich. Dann setze ich mich aufrecht hin. Es ist 11 Uhr. Sprich ich habe drei Stunden geschlafen. Allen ernstes an Henris Schulter? Ich hoffe inständig, dass das nicht der Fall ist. Ich versuche mich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren, aber es fällt mir schwer. Also nehme ich meinen IPod raus. Und fange an Musik zu hören. Ohne dabei einzuschlafen, denn ich traue meinem Kopf nicht. Wahrscheinlich legt er sich bei der nächsten Gelegenheit sofort wieder auf Henris Schulter. Hier neben Rose und den anderen! Stunde für Stunde halte ich das also aus. Bis es endlich 14 Uhr ist und wir uns der Landung nähern. Gemütlich räume ich alles zusammen. Dann lehnt sich plötzlich Henri vor. Und es fliegt seine Kette aus seinem Shirt. Ein Datum. Es steht ein Datum drauf.

AURORAWhere stories live. Discover now