21. Nicht gut genug

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Der folgende Montag ließ sich kaum Zeit. Hundemüde sitze ich mit meinen Eltern am Frühstückstisch. Zum Glück hat Mrs. Delaney dafür gesorgt, dass die Schule heute für meine Klasse und mich erst um 10 Uhr beginnt. Manch einer würde das als ungerecht empfinden, weil wir doch das Wochenende ohnehin als Verschnaufpause hatten und die Skifahrt nun auch keine hochanstrengenden olympischen Spiele waren aber mir soll es recht sein. Schließlich ist es für mich kein Nachteil. Ich piekse mit der Gabel weitere Stücke meines Rühreis auf, um sie mir anschließend in den Mund zu schieben.
"Dein Handgelenk scheint wieder in Schuss zu sein", merkt mein ebenso müder Vater an und sieht dabei von seinem Tablet auf.
"Ich schätze schon", antworte ich und demonstriere ihm die wiedergewonnene Beweglichkeit.
Er nickt anerkennend. "Dann bin ich deinem Freund dankbar dafür, dass er dich angemessen versorgt hat."
Ich lächle ein wenig. Ja, Nathaniel hat die Situation wirklich toll gehandhabt. Auch wenn Papa gerade ein wenig mürrisch dreinsieht, merke ich ihm an, dass er Nathaniels Schluss machen nicht mehr so eng sieht. Fraglich ob es daran liegt, dass er verstanden hat, warum es überhaupt so weit gekommen ist oder ob er findet, dass mein Freund ein Meister im wieder gut machen ist.

Auf dem Weg zur Schule wandle ich wie ein Zombie daher. Langsam, leicht gekrümmt und die Augenlider so schwer, als würden Steine auf ihnen liegen. Trotzdem entdecke ich Kentin in der Ferne und winke ihm freudig zu. "Kentin!", rufe ich und schlagartig werde ich etwas wacher. Er grinst mich breit an. Scheint als hätte er heute gute Laune. "Du strahlst, obwohl unser Tagesablauf nicht mehr hauptsächlich aus Snowboarden besteht?" Schnellen Schrittes laufe ich auf ihn zu und bin somit endlich bei ihm. Gemeinsam setzen wir unseren Gang fort und ich richte meine Haltung wieder auf. Als Antwort auf meine Frage nickt er und verdeutlicht: "Das Wetter ist doch schön für Januar!"
Wo er recht hat, hat er recht. Ich sehe mit zusammengekniffenen Augen in die Richtung der aufgehenden Sonne. Zudem ist es gar nicht so kalt, wie bevor wir nach Arlberg gefahren sind. "Stimmt", kichere ich.
"Hast du gut geschlafen?"
"Ja, aber eindeutig zu kurz. Und du?"
"Bestens. Ich war sogar bereits joggen." Stolz lächelt er mich von oben herab an. Allerdings keinesfalls eingebildet, denn was bleibt ihm auch anderes übrig, wenn er größer ist als ich? Mir klappt die Kinnlade leicht runter, als ich seine Worte realisiere. "Wo nimmst du nur diese Motivation her?!"
Er lacht amüsiert und stupst mir gegen die Nasenspitze. "Du hast sie auch irgendwo in dir drin, wie jeder andere auch."
"Naja, ich glaube die befindet sich schon seit einigen Jahren im Winterschlaf ...", witzle ich und er lacht noch stärker. Plötzlich entdecke ich Viola weiter voraus und rufe ihren Namen, genau wie zuvor bei Kentin. Sie reagiert zunächst schreckhaft, lächelt dann aber breit, als sie mich und den Brünetten sieht und bleibt stehen. Zu dritt gehen wir nebeneinander her weiter und reflektieren die Skifahrt noch einmal. Darin vertiefen wir uns so sehr, dass ich ganz erstaunt bin, als wir das Schulgebäude betreten. Seufzend werfe ich ein: "Ich habe keine Lust!"
"Aber, aber", erwidert Kentin, "dein guter Notendurchschnitt kommt nicht von nichts!"
Ich strecke ihm die Zunge raus. "Moralapostel bist du nun also auch noch!"
"Es wird halb so schlimm sein", versucht Viola mich aufzumuntern.
"Hoffentlich", antworte ich. "Ich muss noch eben das Chemiebuch aus meinem Spind holen, geht ruhig schonmal vor."
"Okay", geben beide gleichzeitig zurück und gehen weiter, während ich an meinem Schließfach Halt mache. Mit Chemie fängt der Tag auch noch an, eine Zumutung ... Warum nicht lieber mit ... Kunst? Ja, gegen Kunst hätte ich als erste Stunde nichts einzuwenden. Ich öffne die Tür meines Spindes und schnappe mir das nötige Buch, ehe ich sie wieder zuknalle. Dabei erschrecke ich mich ein wenig selbst, da ich doch mehr Schwung eingesetzt habe als eigentlich geplant. Als ich mich umdrehe, um den Weg zum Chemieraum einschlage, stelle ich fest, dass so gut wie kein Schüler mehr sich auf den Fluren befindet. Schade, dass ich Nathaniel nicht bereits zufällig über den Weg gelaufen bin. Er sitzt bestimmt längst im Chemieraum und ist bereit für den Unterricht. Die ein oder andere Scheibe könnte ich mir schon von ihm abschneiden.

So zu tun, als ob | Sweet Amoris - Nathaniel FFWhere stories live. Discover now