19. Abrupter Frust

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Ich glaube mir wird schlecht. Ehrlich, ich glaube ich muss mich jeden Moment übergeben. Meint Kentin das ernst?
"Guck nicht so verängstigt", lacht er. "Ich kenne eben deinen glücklich verliebten Blick und ich bezweifle stark, dass der von Castiel hervor gerufen wird, auch wenn er sich das scheinbar sehnlichst wünscht." Untermalend zeigt er auf die Lederjacke, als gäbe es keinen deutlicheren Beweis für seine Aussage. "Aber davon abgesehen hat mich der erste Tag hier überhaupt auf diesen Gedanken gebracht. Weißt du noch? Als wir alleine in dieser Hütte waren, bevor er aufgekreuzt auf ist? Sein Gesicht sprach Bände. Also ... ?"
Ein kleines Zucken durchfährt meinen Körper. Niemals ist das so offensichtlich für ihn. Der will mich doch auf den Arm nehmen! Oder mich testen! Eins von beidem. Mir ist gar nicht bewusst, dass ich die Augen mittlerweile weit aufgerissen und die Augenbrauen zusammengezogen habe, bis der Brünette mich darauf hinweist: "Hey, alles in Ordnung? Jetzt lässt sich nichts mehr vom Verliebtsein in deinem Gesicht erkennen ... Es sieht eher so aus, als würdest du gleich umkippen." Behutsam tritt er ein paar Schritte auf mich zu, um mir sanft über die Schulter, meinen Oberarm entlang, zu streichen. Ein kleines Lächeln setzt er ebenfalls auf, während er mich mustert. Ich bin wie versteinert. Und je mehr ich dieses Schweigen in die Länge ziehe, desto sinnloser erscheint mir eine Antwort. "Hör zu", fängt Kentin langsam an, "ich wollte dich nicht überrumpeln. Ich möchte bloß wissen, was bei dir abgeht. Andauernd reden wir von mir und meinen Gefühlen aber was ist mit deinen?" Nun legt er seine linke Hand an meine rechte Wange und zwingt mich förmlich dazu, ihm weiter in die Augen zu schauen. "Sprich bitte mit mir."
"Ich ..." Mehr bekomme ich nicht über die Lippen. Zu meiner Rettung wird gleichzeitig die Tür geöffnet und unsere Blicke wandern ruckartig auf diese. Der liebe Herr im Himmel meint es mehr oder weniger gut mit mir, denn wie gerufen kommt Nathaniel. Jedoch ist er nicht alleine. Er hat seine Zwillingsschwester im Schlepptau und fürsorglich einen Arm um sie gelegt. Als er aber sieht, wie Kentin und ich ganz aneinander stehen, runzelt er die Stirn. Gleich darauf fällt sein Blick auf Castiels Jacke über meinen Schultern und die Falten vertiefen sich weiter, wobei ich mich wundere, dass das überhaupt möglich ist. Kentin entfernt sich von mir und verstaut die Hände in den Hosentaschen. Ich möchte mir Nathaniels wenig begeisterten Gesichtsausdruck nicht länger antun und sehe stattdessen seine Schwester, die außerdem immer noch meine Zimmergenossin ist, an. Sie hebt den Kopf an und lässt ihre Augen auf meine treffen. Mehrmals blinzelt sie, als würde sie versuchen mich zu fokussieren und dann spricht sie das aus, was ihr Bruder wahrscheinlich vor ein paar Sekunden ebenfalls gedacht hat: "Ist das etwa Castiels Jacke?!"
Darf ich bitte im Erdboden versinken? Bitte!
Vorsichtig streife ich die Jacke von mir ab. Ich nicke. "Ja."
"Warum um alles in der Welt liegt sie um deinen Körper und nicht um seinen?" Ihr Ton ist relativ schneidend, was mich unter Druck setzt.
Unerwartet antwortet Kentin für mich: "Er hat sie ihr praktisch aufgezwungen, also keine Sorge. Lisa hat nicht darum gebettelt." Nüchtern blickt er die beiden Geschwister an und die beiden Blondschöpfe zeigen unterschiedliche Reaktionen. Nathaniel verdreht diskret die Augen, ehe seine Mimik wieder sanfter wird. Amber hingegen scheint weniger überzeugt und sieht zwischen Kentin und mir hin und her. Ich wage kaum zu blinzeln. "Was macht ihr überhaupt hier?", fragt er neugierig.
"Ambers Fieber ist bis jetzt nicht besser geworden. Die Medikamente schlagen nicht an und ihre Mandeln fühlen sich geschwollen an. Ich lasse sie abholen, ist bereits mit Mrs. Delaney abgesprochen", antwortet Nathaniel.
Jetzt mustere ich sie genauer und da fällt mir auf, dass ihre Wangen so gerötet sind, dass man sie glatt mit Tomaten verwechseln könnte. Ihre Augenlider fallen immer wieder nach unten, während sie nicht weiterspricht. Scheinbar war es schonmal deutlich leichter sie offen zu behalten. Ihr Bruder zückt sein Handy hervor, tippt eilig etwas ein, um es sich anschließend ans Ohr zu halten. Dabei kippt er urplötzlich leicht zur Seite, als Amber sich weiter gegen ihn anlehnt. Damit hat er nun nicht gerechnet. Ich wechsle einen flüchtigen Blick mit Kentin, bevor ich Nathaniels Stimme erklingen höre: "Hallo." Es dauert bis er seinen Anruf erklärt. Während er der Person auf der anderen Leitung zuhört, schaut er irgendwann missmutig drein. "Es geht um Amber, sie ist krank. Sie muss heute noch abgeholt werden."
"Wie soll das denn möglich sein?", höre ich Kentin mir zuflüstern.
Ich zucke ratlos mit den Schultern. Allerdings vermute ich, dass mit Geld alles möglich ist und damit mangelt es ihren Eltern an nichts.
"Ja", vernehme ich Nathaniels Stimme weiterhin. "Sie hat hohes Fieber", noch einmal vorsichtshalber kontrollierend legt der seine linke Hand auf ihre Stirn, "und ist wirklich geschwächt." Einige Sekunden kehrt Stille ein und Kentin und ich sehen uns erneut an. Irgendwie ist es unangenehm, dass wir hier rumstehen und zuhören aber keiner von uns beiden scheint sich zu trauen wegzugehen. Zumindest ich traue mich seltsamerweise nicht. Also sehe ich Nathaniel weiter dabei zu, wie er mit irgendeinem seiner Elternteile telefoniert. "Ich weiß, dass wir morgen ohnehin zurückfahren aber sie sollte keine Nacht länger hier bleiben. Vergiss nicht, dass sie kein Zimmer für sich alleine hat, sondern es sich teilt. Es muss vermieden werden, dass sie die Anderen ansteckt." Seine Stimme wird von Mal zu Mal harscher und er lässt kurz seinen Blick über mich schweifen. Er denkt dabei auch an mich, wenn ich das richtig verstanden habe. "Danke. Ich werde mich solange um sie kümmern." Er seufzt einmal schwer und legt dann auf. "Es wird eine Weile dauern aber du wirst abgeholt", spricht er zu seiner Schwester. Diese gibt nur ein heiseres Stöhnen von sich, das wie eine Bestätigung oder ein Dank verstanden werden kann. "Ich bringe dich solange zurück auf dein Zimmer und packe deinen Koffer."
"Soll ich dir helfen?", wende ich ein. Ich spüre dabei Kentins Augen auf mir, doch die sind mir gerade herzlich egal. Auch wenn er bereits ahnt, dass zwischen mir und Nathaniel noch immer irgendwas ist, ich kann ihn nicht einfach mit der kranken Amber davon ziehen lassen, ohne meine Hilfe angeboten zu haben. Unwillkürlich knete ich das Leder zwischen meinen Fingern.
Nathaniel schüttelt verneinend mit dem Kopf. Ich mag mich täuschen aber er macht den Eindruck, als hätte ihm an dem Telefonat etwas nicht gefallen, denn seine Augen sind leicht zusammengekniffen. "Danke", sagt er dennoch sanft und geht mit Amber zurück in die Lobby.
"Sie mag eine Hexe sein", beginnt Kentin, nachdem eine sichere Entfernung zwischen ihnen und uns entstanden ist, "aber sie sieht wirklich bemitleidenswert aus."
"Ich möchte auf jeden Fall nicht in ihrer Haut stecken", gestehe ich.
"Ich auch nicht."
Ich sehe auf die Jacke herab. Es ist Zeit sie wieder loszuwerden, damit mir keine weiteren argwöhnischen Blicke zugeworfen werden. "Ich gehe wieder rein. Kommst du mit?"
Zu meiner Verwunderung gibt er nichts weiter von sich, geht nur auf die Tür zu als Antwort auf meine Frage. Ich hätte eher damit gerechnet, dass er das Thema von vorhin wieder aufgreift. Aber vielleicht sieht er auch keinen wirklichen Sinn darin, da er bereits einen Standpunkt hat und sich diesen von mir auch nicht verändern lassen wird. Das würde zu ihm passen.
In der Lobby hängen wir mal wieder vor dem wärmenden Kaminfeuer ab und diesmal sind auch wirklich alle da. Sogar Charlotte und Li, die ohne Amber zwar nicht verloren aussehen aber auch nicht sonderlich komfortabel. Castiels Jacke ist wieder an ihrem rechtmäßigen Platz und ich erwische mich immer wieder selbst dabei, wie meine Gedanken zu Nathaniel abschweifen. Wie er wohl mit den gegebenen Umständen zurecht kommen mag? Warum hat er meine Hilfe nicht einfach angenommen? Und wann wird Amber wohl abgeholt werden? Etwa mitten in der Nacht? Plötzlich schnipst mir jemand vors Gesicht und ich erschrecke mich, gebe aber zum Glück keinen peinlichen Laut von mir. Ich stoße auf Rosalias beleidigte Mimik. "Du hörst mir ja gar nicht zu, verdammt!"
"E-Entschuldigung", krächze ich zurück.
"Hach, du alte Träumerin. Erzähl mir von deinen Gedanken, damit du mir danach endlich zuhören kannst!"
Ich muss kichern. Welch eine Win-Win-Situation.
"Nun hau schon raus", lacht sie leise und schnippt mir spielerisch gegen die rechte Schulter, die ihr zugewandt ist. Ich ziehe meine Knie näher an mich heran, da der Schneidersitz langsam ungemütlich wird, und lege die Arme auf den Knien ab. "Ich möchte eigentlich gar nicht wieder nachhause."
"Wie? Warum nicht?"
Mit den Schultern zuckend zögere ich meine Antwort ein wenig hinaus, bis ich im Flüsterton mit der Sprache irgendwann rausrücke: "Hier ist es viel weniger umständlich mit Nathaniel Zeit zu verbringen, habe ich das Gefühl. Das liegt vermutlich daran, dass wir einfach auf so engem Umfeld beieinander sind ... Aber eigentlich ist der Grund für meine Ansicht nicht wichtig. Ich möchte bloß noch ein wenig länger hier bleiben."
Meine beste Freundin nickt verständnisvoll. "Ja, in der Schule ist die Größe des Umfelds zwar nicht gravierend anders aber es stimmt schon, dass es Zuhause nicht das Selbe ist, wie hier."
"Außerdem hat diese Fahrt wirklich Spaß gemacht, trotz einiger Missgeschicke." Ich halte mein Handgelenk hoch und schmunzle.
"Aber das", sie zeigt darauf, "hatte doch auch gute Folgen." Ein Zwinkern ihrerseits kann natürlich nicht vermieden werden, wenn sie sowas sagt.
Ich stoße sie lachend weg. "Du lässt einem aber auch keine Gelegenheit melancholisch zu werden, hm?"
"Nie-mals!"
Mein Lachen erlischt wieder und ich fahre fort: "Naja und ich habe noch überlegt wie Nathaniel alleine zurechtkommt."
"Mach dir da wirklich keinen Kopf, Lisa, also bitte. Erstens ist es seine Schwester, um die er sich kümmert und keiner von uns wüsste besser wie mit ihr umzugehen ist, wenn sie krank ist, als er und zweitens ist er der Schülersprecher, falls ich dich nochmal daran erinnern darf. Wo kämen wir denn dahin, wenn er nicht selbstständig arbeiten kann?" Gestikulierend schwingt sie die Hände in die Höhe, um das Ganze zu dramatisieren. Jetzt muss ich doch wieder Grinsen und sie tippt mir gegen die Stirn. "Dein Gehirn muss sich mal etwas mehr entspannen, Süße!"
"Okay, okay!" Ergebend hebe ich die Hände. "Dann leg du jetzt mal los."
"Womit?"
"Was du mir vorhin erzählst hast? Ich habe ja nicht zugehört und jetzt sollst du es wiederholen!"
Sie sieht mich finster an aber ich erkenne direkt, dass das nur gespielt ist. "Tja, du Tröte, durch deine Ignoranz habe ich das bis jetzt wieder längst vergessen! Toll gemacht!"
Wir verfallen in herzhaftes Gelächter und ich könnte mich nicht sorgenfreier fühlen, als in diesem Augenblick. Rosalia ist die beste Freundin überhaupt und sie erfüllt ihren Job mit Bravur!

So zu tun, als ob | Sweet Amoris - Nathaniel FFWhere stories live. Discover now