20. Der Alltag ruft

582 31 12
                                    

Als ich am nächsten Morgen erwache, stelle ich zu meiner Verwunderung fest, dass ich ganz alleine bin. Ratlos sehe ich mich um, jedoch in dem Tempo einer Schnecke, da ich noch ganz benebelt vom Schlaf bin. Ich entdecke meinen Koffer, das leere Bett gegenüber von meinem und ansonsten sieht alles genauso aus, wie in den letzten Tagen zuvor auch. Nach meinem Handy gegriffen schaue ich auf die Uhr und stelle fest, dass ich zehn Minuten vor Erklingen meines Weckers wach geworden bin. Irritiert streife ich mir mit der freien Hand durchs dunkelbraune Haar. Habe ich etwa nur geträumt, dass Nathaniel in der Nacht zu mir gekommen ist? Automatisch schüttle ich verneinend mit dem Kopf, als wüsste ich es doch besser. Weiß ich auch! Nathaniel war hier, bei mir. Bestimmt ist er früh genug wieder zurück auf sein Zimmer gegangen, damit niemand Verdacht schöpft. So eine schlaue Aktion kann ich von ihm erwarten.
Ich mache mich ran aufzustehen. Von weitem erkenne ich bereits mein Spiegelbild. Offenbar habe ich gut geschlafen, denn ich entdecke auf der Stelle Abdrücke des Kissens auf meiner rechten Wange. Schick ist was anderes. Ein Gähnen entwischt mir. Zum Glück starten wir mit unserer Rückkehr direkt ins Wochenende und nicht Hals über Kopf in eine neue Schulwoche.

Mit meinem rosa Koffer im Schlepptau begebe ich mich in die Lobby, als ich Armin aus einem anderen Gang kommen sehe. Ich rufe laut seinen Namen und winke ihm zu. Er dreht sich mit einem schreckhaften Zucken zu mir, doch als er mich erblickt, grinst er bis über beide Ohren. "Die kleine Lisa", spricht er munter aus.
"Der große Armin."
"Das klingt nicht übel!" Er muss lachen. Nachdem ich bei ihm angekommen bin, geht er weiter neben mir her. "Freust du dich schon auf deine Konsolen?", frage ich.
"Und wie! Ich fand das war die größte Frechheit, die sich unsere Lehrer jemals erlaubt haben! Uns einfach zu verbieten, sowas auf die Fahrt mitzunehmen!"
Ich zucke lächelnd mit den Achseln und erwidere: "Solange sie uns nicht auch noch ein Handyverbot erteilt haben."
"Da ist was dran", sagt er nun in einer weniger aufgewühlten Stimmlage.
Ich gähne. "Ich glaube ich werde im Bus wieder schlafen ..."
"Ich auch, denn dann vergeht die Fahrt schneller und umso eher bin ich wieder zuhause."
"Du hast es ja wirklich eilig", kichere ich.
"Du etwa nicht?"
"Nicht unbedingt. Ich schätze das Einzige, worauf ich mich momentan freue, ist das leckere Essen meiner Eltern."
"Achja, das ist bestimmt muy bueno!" Er versucht sich an einem spanischen Akzent und wackelt keck mit den Augenbrauen. Ich pruste los, weil das so plötzlich kam. "Komm schon, hab ich mich nicht wie ein waschechter Mexikaner angehört?"
Ich schüttle lachend den Kopf. "Tut mir leid dich enttäuschen zu müssen."
"Ein Versuch war es wert!"
Ich wende meinen Blick von seinem Gesicht ab und schaue stattdessen wieder nach vorne. Da fällt mir erst auf, dass Melody mit Nathaniel vor uns her läuft. Zwar mit einem gewissen Abstand, doch ich höre ihr Quasseln bis hierher.
"Warum guckst du so streng?", fragt Armin und ich sehe ruckartig wieder zu ihm. Unsicher lache ich, doch das klingt so gespielt, dass ich es am liebsten direkt wieder zurücknehmen würde. Ich frage: "Wie? Was meinst du?"
"Du siehst aus, als würdest du überlegen, ob du jemanden umbringen sollst oder nicht."
Ich spitze die Lippen. Sah ich gerade wirklich so grimmig aus, ohne es bewusst zu machen?
"Ich vermute mal, dass du dich nur schwer dazu bringen konntest, es noch nicht zu tun", fügt der Schwarzhaarige mit einem Grinsen hinzu, als würde er mehr wissen, als mir lieb ist.
Hastig schüttle ich mit dem Kopf. "Deine Fantasie geht ein wenig mit dir durch! Vielleicht solltest du weniger World of Warcraft spielen."
"Und du solltest vielleicht Schauspielunterricht nehmen, damit du nicht mehr so leicht zu durchschauen bist!"
Beleidigt sehe ich wieder von ihm ab. Erst Kentin, jetzt Armin. Nie im Leben sollte irgendjemand auf die wilde Idee kommen, dass da zwischen Nathaniel und mir mehr ist, als nur Freundschaft. Ich bekomme einen Stups in die linke Seite verpasst, woraufhin ich leicht nach rechts knicke. "Hey", jammere ich lächelnd zum Übeltäter. Dieser lächelt daraufhin zurück.
In der Lobby angekommen sind bereits alle da. Rosalia gesellt sich zu Armin und mir und wirkt wie der fröhlichste Mensch in diesem Raum. Sie kann gar nicht aufhören zu strahlen und von Leigh sowie ihrem heißgeliebten Bett zu schwärmen. Vermutlich freut sie sich immer noch am allermeisten auf Zuhause.
"Du bist süß, wenn du so glücklich bist, Rosa", wendet Alexy lachend ein.
"Warum seid ihr es nicht auch? Die Betten hier waren auf Dauer wirklich eine Zumutung!"
"So schlimm fand ich sie nun wirklich nicht", entgegne ich.
"Also ich achte gar nicht erst auf sowas. Hauptsache ich muss nicht auf dem Boden schlafen." Armin zuckt gleichgültig mit den Schultern und verdreht leicht die Augen.
Rosalia sieht auf einmal aus, als würde sie die Welt nicht verstehen. "Ihr solltet euch ruhig mehr gönnen!"
"Die Chefin hat gesprochen", grinst Alexy.
Rosalia schlägt ihm spielerisch gegen den Oberarm. Gleichzeitig klatscht Mrs. Delaney in ihre Hände, um unsere Aufmerksamkeit auf sie zu richten. Sie blickt streng drein und auch irgendwie genervt. Wahrscheinlich freut sie sich auch schon auf ihre eigenen vier Wände, ohne uns nervigen Schüler. Ob sie wohl verheiratet ist? Kann ich mir irgendwie nicht vorstellen. "RUHE!", schreit sie nun und alle verstummen. Falls doch, hoffe ich dass sie ihren Mann nicht so anbrüllt. "Bringt alle eure Koffer zum Bus! Wir wollen gleich abfahren!"
"Endlich", stöhnt meine beste Freundin erleichtert auf und macht sich auf den Weg. Ich folge ihr und versuche dabei darauf zu achten, dass ich mit meinem Koffer niemandem in die Hacken oder ähnliches fahre. Das kann schließlich keiner gebrauchen. Plötzlich mache ich genau damit Bekanntschaft. Castiel achtet nicht sonderlich auf das Gepäck, das er hinter sich her zieht, was dazu führt, dass er damit gegen meine rechte Hacke donnert. Der Schmerz setzt schlagartig ein und ich kann ein dementsprechendes Geräusch nicht unterdrücken. Jedoch reagiert der Rothaarige sofort und sieht mich erschrocken an. Ich verziehe den Mund zu einer geraden Linie. "Scheiße", rutscht es ihm heraus und er dreht sich zu mir. "Das war keine Absicht!"
Ich lächle schief. "Ich weiß, schon okay."
"Tut mir leid!"
"Kannst du nicht aufpassen?!", mischt sich Nathaniel unerwartet ein. Er mustert Castiel streng und gleich darauf schenkt er mir einen besorgten Gesichtsausdruck.
"Er hat mir nicht den Fuß gebrochen", sage ich beruhigend.
"Was soll überhaupt diese Aufspielerei als ihr Beschützer?" Castiel sieht verachtend zu dem blonden Jungen.
"Ich spiele mich nicht auf."
"Ja, klar. Und ich bin der Weihnachtsmann." Seine Stimme trieft vor Sarkasmus und Provokation. Nathaniel aber geht nicht weiter drauf ein, sondern verdreht nur die Augen.
"Ist doch jetzt auch nicht weiter wichtig", versuche ich die Situation zu entschärfen. Mein Gott, was für Streithähne! Ich lege ein etwas schnelleres Tempo ein und lasse dadurch beide hinter mir zurück. Sollen sie sich ruhig weiter angiften aber ohne mich. Ich geselle mich zu Lysander, der diskret zu Castiel und Nathaniel schaut aber mir entgeht sein Beobachten trotzdem nicht. "Schlimm", kommentiere ich dazu und Lysanders verschiedenfarbiges Augenpaar richtet sich nun auf mich. Er nickt leicht. "Ich weiß auch nicht warum die Zwei sich andauernd diesen Stress machen."
Nichtswissend zucke ich mit den Schultern. Klar, in dem Fall ging es um mich aber den alten Zorn, der von Debrah damals überhaupt hervorgerufen wurde, sollte doch allmählich mal vergessen werden. Zusammen gehen wir die letzten paar Meter zum Bus. Bis schnelle Schritte und ein lautes Rollen über die Pflastersteine zu hören ist. Wie auf Kommando drehen Lysander und ich uns zu diesen Geräuschen um und stoßen dabei auf Castiel. Sieht aus, als hätte mein einfaches Abgehen etwas bewirkt. "Lys", ruft er.
"Was ist los?"
Ich sehe schweigend zwischen den beiden hin und her, als Castiel endlich zum stehen kommt und seinen Koffer hochhebt. Als wäre er ein Fliegengewicht, dabei ist sein Gepäck größer als meines. Gelassen wirft er es zu den anderen in den Kofferraum des Busses hinein, wendet sich anschließend wieder seinem besten Freund zu. "Ich tausche Plätze."
"Mit wem?" Lysanders Augenbrauen ziehen sich zusammen.
"Rosalia."
Ich verschlucke mich an meiner eigenen Spucke, als ich ihn diesen Namen aussprechen höre. "Moment mal", wende ich ein. "Das kannst du doch nicht einfach so entscheiden!"
Er sieht mich an, als sei ich bescheuert. "Und wieso nicht? Sie wird ohnehin nichts dagegen haben. Immerhin wird sie neben Lys sitzen und nicht neben Charlotte."
"Na und?"
"Ich habe meinen Namen gehört?", spricht Rosalia uns an und sieht skeptisch zu den beiden Jungs.
Lysander hält sich gekonnt aus der Sache raus, während Castiel erklärt: "Ich möchte auf der Rückfahrt neben Lisa sitzen. Geht das klar?"
Rosalia spitzt einen Moment die Lippen, doch dann nickt sie. Überrascht von ihrer Reaktion sehe ich sie mit großen Augen an. "Rosa", zische ich, "was soll das?"
"Lys und ich werden doch sowieso beide von Leigh abgeholt, so bleiben wir zusammen. Mach dir keinen Kopf, Castiel will nur neben dir sitzen und nicht bei dir übernachten." Aufmunternd lächelt sie mich an, jedoch hat sie gerade meiner Ansicht nach falsch gehandelt. Sie hat zwar recht, dass ich das nicht so eng sehen sollte aber da ist weiterer Stress ja praktisch vorprogrammiert. O Allmächtiger, stehe mir bei! Ehe ich mich versehe nimmt Castiel meinen Koffer und bugsiert ihn zu den anderen. Ich lächle ihn an und bedanke mich dafür. "Ich denke aber dass wir uns nicht viel unterhalten werden", warne ich ihn vor.
Er sieht mich fragend an. "Okay?"
"Ich bin immer noch total müde und werde sicher den Großteil der Fahrt durchschlafen, wenn nicht sogar die ganze."
Obwohl ich mit einer eher enttäuschten oder genervten Reaktion gerechnet habe, verzieht er seine Lippen bloß zu einem breiten Grinsen.
"Was ist so komisch?", frage ich verunsichert.
"Du Faultier", gibt er nur zurück.
"Tzz, nur weil ich schlafen möchte?"
Er lacht: "Guck nicht so beleidigt!"
"Dann hör du auf mich zu ärgern!", lache ich jetzt auch.
Er zieht mich an sich ran und wuschelt mir dabei durchs Haar. Ich lasse es mehr oder weniger über mich ergehen, da er mich in Sekundenschnelle auch schon wieder frei gibt. Plötzlich tippt mir jemand auf die Schulter und lässt meine Augen von Castiel zu der Person wandern, die sich als Li entpuppt. Irritiert sehe ich sie an, während ihr Blick viel mehr ausdruckslos ist. "Ähm, kann ich dir helfen?", frage ich.
Statt zu antworten zieht sie mich von Castiel weg und zischt: "Ja. Nur weil Amber nicht hier ist, heißt das nicht, dass du das ausnutzen musst."
Ich halte ihr die Hand vor das Gesicht. "Moment mal", erwidere ich, "Amber und ich hatten dieses Thema bereits unzählige Male und ich denke es ist nicht deine Aufgabe jetzt für sie zu reden."
"Als wüsstest du das besser."
"Ich werde jetzt zurück zu Castiel gehen. Einfach weil ich dir keinerlei Rechenschaft schuldig bin, ebenso wenig wie Amber, aber ich schon oft versucht habe ihr zu verstehen zu geben, dass ich nichts von Castiel will." Zu Ende gesprochen setze ich meine Worte in die Tat um. Der, um den überhaupt dieses ganze Trara geht, blickt sprachlos drein aber hält den Mund.
Im Bus gehe ich vor Castiel her und suche einen Platz. Als ich mich für einen entschieden habe, lasse ich einen Blick auf die andere Seite schweifen und stelle erfreut fest, dass diesmal nicht Melody und Nathaniel dort sitzen, sondern Kim und Iris. Hallelujah! Ich lasse mich nieder und Castiel plumpst ebenfalls nieder. Wortwörtlich, denn ein dumpfes Geräusch folgt. Ich unterdrücke ein Kichern, als ich auf einmal eine für mich unerfreuliche Stimme reden höre, und das auch noch in unmittelbarer Nähe: "Morgen fange ich an für die Geschichtsklausur zu lernen und am Sonntag werde ich meine Unterlagen für Mathe sortieren und auch schonmal durchgehen."
Ich drehe meinen Kopf leicht zur Seite und stelle durch den Ritz zwischen Castiels und meinen Sitzen fest, dass Melody hinter uns sitzt und wem sie mit ihrem Ehrgeiz imponieren will, liegt ja nun völlig auf der Hand. Ich wage gar nicht zu Nathaniel zu schauen und bezweifle, dass er nicht gesehen hat, wie Castiel mein Sitznachbar ist. Wie konnte ich die beiden nicht sehen, als ich meine Wahl getroffen habe? Unfassbar, ich bin immer noch so müde, dass ich schon blind bin. Ich stöhne und lasse mich tiefer in den Sitz sinken. Währenddessen sehe ich im Augenwinkel, wie der Rothaarige seine Musik bereit macht und die Kopfhörer entwirrt. Er murmelt dabei immer wieder Flüche vor sich hin, bis es mir irgendwann zu bunt wird und ich ihm einfach den Kabelsalat aus der Hand reiße.
"HEY!", beschwert er sich lauthals.
"Ruhe", gebe ich mit finsterem Blick zurück, "ich will dir nur helfen."
"Ich kann das auch alleine!"
"Habe ich gesehen! Deswegen frage ich auch gar nicht erst, ob ich dir helfen soll. Du bist viel zu stur, um das Angebot anzunehmen."
"Ach, was weißt du schon!"
"Einiges", lache ich leise und mache mich an dem dicken Knoten zu schaffen. Mit meinen kleinen Fingerspitzen ist zwar noch lange kein Kinderspiel aber um einiges leichter, als für Castiels Wurstfinger. Eigentlich sind sie gar nicht wurstig aber im Vergleich zu meinen wirken sie so. Er sieht mir gespannt dabei zu, lässt seinen Gesichtsausdruck aber weiterhin misstrauisch aussehen. Seine Kinnlade kippt ihm runter, als ich das Chaos entwirrt habe und die schwarzen Kabel wieder perfekt voneinander getrennt sind. Stolz halte ich ihm die Kopfhörer hin und lächle. Es dauert ein paar Sekunden und er lächelt zurück. "Na schön. Punkt für dich, Kleine."
"Zu gütig!"
"Willst du mithören?"
Ich bekomme bei seiner Frage eine Art Déjà-vu, da Melody vor der Hinfahrt Nathaniel das Selbe gefragt hat. Sanft schüttle ich mit dem Kopf und ziehe mein eigenes Paar Kopfhörer aus der Jackentasche hervor. "Ich bin selbst gut versorgt", antworte ich grinsend.
"Bestimmt hörst du so Schnulzenlieder. Du solltest dir mal richtig gute Musik anhören!"
"Zum Teil, ja und nein, danke. Ich bin sehr zufrieden mit meiner Musikauswahl!"
Er schüttelt lachend mit dem Kopf. "Na schön. Nochmal mache ich dir das Angebot nicht."
Ich zucke lächelnd mit den Schultern, ehe ich mir die Stöpsel endlich in die Ohren stecke und das erste Lied einschalte.

So zu tun, als ob | Sweet Amoris - Nathaniel FFDonde viven las historias. Descúbrelo ahora