6. Das Versteckspiel beginnt

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Die Weihnachtstage konnten nicht schnell genug vergehen, denn heute darf ich Nathaniel endlich wiedersehen. Als meinen Freund, bei dem es mir seit unserem letzten Treffen noch immer so vorkommt, als wären wir nie voneinander getrennt gewesen. Es ist mir unerklärlich, wieso, aber nehme dieses Wohlbefinden auch gerne entgegen.
"Und du bist dir wirklich sicher, Prinzessin?"
Mein Vater wirft mir einen strengen Blick zu, jedoch zeugt sein Spitzname für mich viel mehr von Besorgnis. Er lässt sich tiefer in seinen Sessel hineinsinken. Ich nicke entschlossen zurück.
"Es hat schließlich beim ersten Mal schon nicht funktioniert."
"Papa ..."
"Warum soll es das jetzt? Ich bin bloß neugierig, was du dir dabei gedacht hast."
Ich bemühe mich, nicht die Augen zu verdrehen. Ich will nicht respektlos wirken, doch es nervt mich tierisch, dass er sich nicht einfach für mich freuen kann.
"Er hatte seine Gründe, mich zu verlassen."
"Jetzt hätte er sie nicht mehr?"
Ich seufze.
"Nun hör aber mal auf, Leonardo!", wirft meine Mutter in den Raum. Sie scheint das Gespräch, von der Küche aus, mitbekommen zu haben.
"Ich möchte nur nicht, dass du erneut in dein Unglück rennst", verteidigt er sich und schaut mich dabei an.
"Nathaniel ist kein schlechter Junge für unsere Tochter. Er sorgt sich ebenfalls um sie."
"Danke, Mama."
Ich schenke ihr ein kleines Lächeln, worauf sie mit einem breiteren zurück reagiert. Ich wende meinen Blick wieder meinem Vater zu, ehe ich versuche zu erklären: "Nathaniel wollte mir nicht weh tun und das glaube ich ihm auch. Es sind aber seine Eltern, die ihm das Leben schwer machen. Bitte mach ihm da keinen Vorwurf ... Er wollte nur das Beste für mich, doch hat nicht verstanden, dass es mir nicht um seine Eltern, sondern um ihn geht."
Der etwas grimmig aussehende, breit gebaute Mann sieht zu seiner Frau, die mit einem leichten Nicken meine Sätze befürwortet. Im selben Augenblick klingelt es an der Haustür.
"Ich gehe schon", kündige ich an und laufe in den Flur, um die Tür zu öffnen.
Ein Gemurmel zwischen meinen Eltern ist noch zu vernehmen, doch das gerät schnell weiter in den Hintergrund, als ich Nathaniels liebliches Gesicht erblicke. Er strahlt bis über beide Ohren, als er mich sieht und anstatt mich zur Begrüßung zu küssen, umarmt er mich feste. Ich schließe die Augen und lege meine Arme ebenfalls um ihn. Wir haben uns bloße drei Tage nicht gesehen, doch ich freue mich als wären es ganze drei Monate gewesen. Er streicht mir sanft durch mein dunkelbraunes Haar. Die kühle Luft, die von draußen, durch die Tür, in das Haus eindringt ist mir relativ. Meinem Vater allerdings nicht: "Machst du bitte die Tür zu? Wir müssen die Heizkosten für diesen Monat nun auch nicht an die Spitze treiben."
"Leonardo", zischt meine Mutter hinter ihm.
Ich löse mich unfreiwillig aus Nathaniels Armen, um anschließend zu gehorchen und die Tür hinter ihm zu schließen. Folglich sehe ich meinen Vater konfus an.
Hat er mir denn vorhin nicht zugehört?!
"Guten Tag", begrüßt Nathaniel meine Eltern und geht auf beide, die nur noch wenige Schritte von uns entfernt stehen, zu. "Ich entschuldige mich dafür, dass ich nicht sofort eingetreten bin."
"Ach", winkt meine Mutter lachend ab und reicht ihm die Hand, "mach dir da mal keine Sorgen. Mein Mann übertreibt nur mal wieder ein wenig." Sie baut einen Blickkontakt mit ihm auf, zieht dabei die Augenbrauen zusammen. "Nicht wahr?"
Nathaniel hält nun meinem, wenig begeistert aussehenden, Vater die Hand hin. Er sieht zunächst nur auf diese, bis er ihr letztlich doch mit seiner Eigenen entgegen kommt.
So ein Sturkopf ... Wirklich unangenehm ...
"Ich würde nicht sagen, dass ich übertrieben habe aber ich kann darüber hinwegsehen", brummt er.
"Vielen Dank, Sir", gibt Nathaniel in wackeliger Stimmlage zurück.
Meinem Vater scheint das nicht zu entgehen, denn er hält Nathaniels Hand noch einen Moment fest.
"Wolltest du nicht die Wäsche für mich aus dem Trockner holen, Schatz?"
"Jaja."
Leonardo lässt von der Hand des Blondschopfs ab und begibt sich zur Treppe, die in den Keller führt. Meine Mutter zwinkert mir noch zu, bevor auch sie wieder zurück in die Küche geht. Ich greife nach Nathaniels Hand und schaue zu ihm rauf.
"Lass uns in mein Zimmer gehen", schlage ich ihm lächelnd vor.
"Gerne!"
Ich führe ihn, obwohl ihm der Weg nicht unbekannt ist, bis wir in der Mitte meines Zimmers angekommen sind und er beginnt sich von seinem Mantel, Schal und seinen Schuhen zu befreien. Währenddessen lasse ich mich auf mein Bett plumpsen.
"Dein Vater scheint mir übel zu nehmen, was ich getan habe", spricht er mit gedämpfter Stimme aus. Derweilen schlüpft er aus seinem linken Schuh.
"Oh Gott", seufze ich, "das tut mir wirklich leid. Ich habe zuvor noch mit ihm gesprochen und trotzdem war er so mürrisch dir gegenüber."
Nathaniel kommt auf mich zu, lässt sich neben mir nieder und gleitet mit seinen Fingern, der linken Hand, wieder in die meinen. Er lacht leicht: "Du brauchst dich nicht dafür zu entschuldigen. Ich habe Verständnis dafür."
"Trotzd-"
"Nein. Der, der seiner Tochter weh getan hat, ist jetzt wieder mit ihr zusammen. Es ist kein Wunder, dass er mir nun mit Skepsis gegenüber tritt. Ich an seiner Stelle, würde das Selbe tun."
Man könnte glatt meinen, er habe bereits zuvor mit meinem Vater gesprochen. Allerdings ist es bloß Nathaniels reife Art, die Sachverhalte zu betrachten. Er streichelt mir mit seiner freien Hand über die linke Wange. Mein Schamgefühl, das bis vorhin in mir herrschte, legt sich wieder bei seiner Berührung. Er blickt mir tief in die Augen.
"Ich werde deinen Vater einfach nochmal von mir überzeugen. Mach dir da keinen Kopf."
Ich lächle ihn an. "Dir kann man ja auch nicht widerstehen."
Ich beuge mich weiter zu ihm rüber, um meine Lippen auf seine treffen zu lassen. Seine Hand lässt er auf meiner Wange verweilen. Wenn wir uns küssen, existiert sowieso niemand Anderes mehr für mich. Weder mein Vater, der vermutlich gerade in ein Selbstgespräch verfällt, während er die Wäsche aus dem Trockner holt, noch meine Mutter, die mir immer eine große Unterstützung ist und sich sicherlich gerade für mich freut. Nathaniels Lippen führen langsame Bewegungen mit meinen durch. Es sind zärtliche Küsse, die wir austauschen und mich schnurstracks an die Spitze der Fröhlichkeit katapultieren. Allmählich lösen wir uns wieder voneinander, machen die Augen gleichzeitig wieder auf und schauen uns an. Ich muss automatisch wieder anfangen zu lächeln.
"Ich habe es zwar schon letztes Mal gesagt, aber ..." Er blickt für einige Sekunden verlegen zur Seite, dann wieder mir in die Augen. "Du hast mir wirklich gefehlt."
"Du mir auch", lache ich erfreut und drücke ihm einen Kuss auf die Wange.
Er lächelt und seine Wangen beginnen sich ein wenig zu erröten.
"Wie war dein Weihnachtsfest, Nath?"
"Ganz schön. Wir sind zu meinen Großeltern gefahren und haben dort gemeinsam zu Abend gegessen und auch die Bescherung abgehalten. Ich habe auch neue Bücher geschenkt bekommen. Zwar von meinen Eltern nur welche, die mit Logistik zutun haben aber von meinen Großeltern zumindest einige, für mich neue, Krimis."
Unter seiner Erzählung hört er nicht auf zu lächeln. Offensichtlich bereiten ihm seine Oma und sein Opa immer wieder Freude.
"Das hört sich toll an!"
"Ich wünschte du hättest dabei sein können. Du würdest meinen Großeltern bestimmt gefallen, besonders Großmutter."
"Wirklich? Warum?"
"Sie hält Amber für viel zu verzogen, verwöhnt und hat schon immer ihr freundliches und braves Aufsetzen durchschaut. Du hingegen bist eine ehrliche Persönlichkeit, die zudem auch noch gebildet ist und ausgezeichnete Manieren an den Tag legt."
Ich muss leise in mich hineinlachen. "So siehst du mich also?"
"Natürlich aber ich sehe auch noch viel mehr in dir, als das." Er legt mir eine Haarsträhne hinter mein Ohr zurück. "Ich hoffe du lernst sie irgendwann noch kennen. Erzähl mir nun von deinem Fest!"
"Heiligabend habe ich nur mit meinen Eltern zusammen verbracht, die restlichen zwei Weihnachtstage haben wir die einzelnen Verwandten abgeklappert. Ich kann mich auf jeden Fall nicht beschweren, denn es ist ein schönes Gefühl immer so herzlich von Familienmitgliedern empfangen zu werden. Auch wenn ich von so ziemlich jedem gesagt bekomme, dass ich gewachsen sei. Dabei wachse ich seit ich Dreizehn bin nicht mehr. Das ist jedes Mal wieder ein wenig frustrierend ..."
Mein Freund versucht gar nicht erst sein Lachen zu unterdrücken, lässt dem stattdessen freien Lauf. Ich stoße ihn leicht weg und stimme mit ein.
"Ich lache dich nicht aus, nur damit du es weißt!"
"Natürlich! Erzähl das wem anders, mein Lieber."
Ich rapple mich auf und reiche ihm meine Hand hin. Gebafft sieht er auf diese, greift aber zu.
"Was hast du vor?"
"Wollen wir eine Kleinigkeit essen gehen?"
"K-Klar, aber ..."
"Es wäre schon ein dummer Zufall, wenn wir jemandem aus der Schule begegnen. Falls es doch passiert, verhalten wir uns einfach wie die Klassenkameraden, die wir auch sind."
Ein aufmunterndes Lächeln bildet sich auf meinen Lippen, dem er sichtlich nicht entsagen kann und ebenfalls aufsteht.
"Jetzt kann ich mich ja wieder anziehen", witzelt er.
"Nur nicht zu zimperlich!"
Kichernd stelle ich mich auf Zehenspitzen und drücke ich ihm einen Kuss auf die Wange, bevor ich mich für den Aufenthalt an der frischen Luft fertig mache.

So zu tun, als ob | Sweet Amoris - Nathaniel FFOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz