4. Die blaue Blume

725 39 25
                                    

"N-Nathaniel, du ... du bist ganz blass ..."
Er hält sich eine Hand an die Stirn, drückt mit dieser leicht dagegen und kneift die Augen zusammen.
"Geht es dir gut?!", frage ich nun verunsichert sowie besorgt.
Seine Fingerspitzen streichen leicht von rechts nach links, als würde er damit versuchen sich wieder zu beruhigen und entspannen. Ich neige den Kopf leicht zur Seite, lasse Nathaniel aber keine Sekunde aus den Augen und mustere ihn stattdessen genauestens.
"Ja ... Ja ...", gibt er leise zurück.
"Bist du dir sicher?"
"Ich ..."
Er macht seine Stirn wieder frei und öffnet die Augen, um mich anzusehen. Sein Gesichtsausdruck zeugt nun nicht mehr von Anstrengung, sondern Enttäuschung.
Habe ich vorhin etwas falsches gesagt, dass er sich plötzlich so merkwürdig verhält?
Erneut sieht er auf seine Armbanduhr. "Ich muss jetzt wirklich gehen ..."
"O-Okay ..."
"Wir sehen uns in der Schule." Ein leichtes Lächeln lässt sich in seinem Gesicht erkennen.
"Bis dann", verabschiede ich mich von ihm und winke, doch er hat sich bereits umgedreht und sieht es nicht.
Verwirrt sehe ich ihm nach.
Dieses kurze Gespräch ist doch eigentlich nicht schlecht gelaufen ... Was ist plötzlich in ihn gefahren?!

Am letzten Schultag, und Tag des Wichtelns, ist es kälter als die Tage zuvor. Die Schneeschicht geht mir bereits bis zum Knöchel und meine Nase beginnt direkt zu laufen, sobald ich einen Fuß vor die Tür setze.
Mr. Faraize hatte die süße Idee, den gesamten heutigen Tag keinen Unterricht zu machen und stattdessen gemeinsam in Weihnachtsstimmung zu kommen. Schließlich ist morgen bereits Heiligabend.
Dieses Jahr habe ich mir nichts konkretes von meinen Eltern gewünscht, denn das, was ich mir am meisten wünsche, können sie mir nicht kaufen.
Ein wenig geknickt drücke ich mein Geschenk für Kentin in den Händen zusammen. Das dunkelgrüne, mit Schneemännern und Lebkuchen verzierte, Geschenkpapier schimmert mir entgegen und raschelt zugleich.
Neben mir sitzt Rosalia, die ihr Geschenk ebenfalls in der Hand hält. Natürlich hat sie eher ein Händchen für die Ästhetik, denn ihre selbstgefaltete, riesige Goldschleife und die im Karomuster angeordneten silbernen und roten Geschenkbänder lassen meine Verpackungskünste mehr als alt aussehen.
"Ich hätte besser dich mein Geschenk einpacken lassen sollen", lache ich sie an.
Bevor sie antwortet, wirft sie einen genaueren Blick auf meine Fähigkeiten. Sie grinst und nickt bestätigend.
"Aber so ist es viel persönlicher", merkt sie an. "Für wen ist denn das?"
Für sich selbst sprechend halte ich ihr mein Geschenk genauer unter die Nase. Mit goldfarbenem Edding habe ich Kentin und einen kleinen, lächelnden Smiley dahinter auf das Papier geschrieben.
"Süß", kichert sie. Anschließend zeigt sie mir ihre Beschriftung.
"Lysander?"
"Ja!"
"Und du hast nicht geschummelt, indem du getauscht hast?"
"Tzz", schmollt sie, "als hätte ich sowas nötig!"
Ein, für kurze Zeit unterdrücktes, Lachen entwischt meiner Kehle. Im selben Augenblick ist Mr. Faraize fertig damit, sein mitgebrachtes Weihnachtsgebäck auszupacken.
"Hätten wir nicht auch selber backen können?", erkundigt sich Melody.
"Das hatte ich zunächst vor mit euch aber die Schule besitzt nunmal keinen Backofen."
"Zu schade ..."
"Ich hätte eh keine Lust gehabt mir die Finger schmutzig zu machen", gibt Amber ungefragt ihre Meinung dazu.
Armin kontert: "Aber du hättest dann locker trotzdem alles weggefressen, was?"
"H-HALLO?!"
Bis auf ihre zwei Freundinnen, muss der Rest der Klasse schmunzeln. Nicht mal unser Lehrer gibt sich Mühe so zu tun, als hätte er das nicht gehört oder lustig gefunden. Folglich öffnet er die Dosen, in denen sich die Knabbereien befinden. Ich muss zu Kentin rüberschauen, der sich bereits genüsslich über die Lippen leckt. Er scheint jetzt schon die Kekse schmecken zu können.
"Bedient euch!"
Das lässt der brünette, ehemalige Militärsschüler sich nicht zweimal sagen. Er springt auf, als ginge es bereits um den letzten Keks. Erneut müssen einige darüber kichern.
Nachdem die Stimmung weiter aufgelockert und die Bäuche gefüllt sind, klatscht Mr. Faraize zweimal in die Hände um unsere Aufmerksamkeit auf ihn zu richten. Ein paar begeben sich zurück auf ihre Plätze, darunter Alexy, der sich zu Rosalia und mir gesellt hatte.
"Ich werde jetzt all eure Wichtelgeschenke an mich nehmen und sie dann austeilen."
Bereits während er spricht beginnt er die einzelnen Päckchen an sich zu nehmen, indem er sie in einer großen Tüte sammelt. Wäre es ein brauner Sack und er selbst deutlich älter, mit Bart, könnte man ihn schon beinahe als Weihnachtsmann identifizieren.
Infolgedessen macht er seine Ankündigung wahr und überreicht jedem nach und nach sein Geschenk. Manche können ihre Vorfreude gar nicht im Zaum halten und grinsen bis über beide Ohren, als sie es halten. Andere wiederum verziehen die Mundwinkel nicht, und wenn doch dann höchstens nach unten. Darunter Castiel, der sein Geschenk mit Skepsis entgegen nimmt. Er dreht es ein wenig in seiner Hand, um es auch von allen Seiten zu begutachten. Es ist allerdings relativ klein gehalten, wodurch es nicht viel zu inspizieren gibt. Letztendlich schüttelt er es einmal und legt es dann wieder vor sich, auf dem Tisch, ab. Sein mürrischer Gesichtsausdruck dabei macht Knecht Ruprecht alle Ehre.
Auf einmal bekomme ich ein Geschenk vor die Nase gesetzt. Ich war so fixiert auf Castiels Reaktion, dass ich schon wieder vergessen habe, dass ich auch noch etwas erhalte. Ich muss lächeln, als ich es sehe. Von der Verpackungsweise her würde ich annehmen, dass mein Geschenk von einem Jungen kommt. Er wurde mühevoll selbst verpackt.
"Oh, warte, Lisa", hält mich Mr. Faraize davon ab, mit dem Auspacken zu beginnen. "Ich habe hier noch ein Geschenk für dich ..."
"Noch eins?!"
Nicht nur ich bin verwundert, sondern auch der Rest der Klasse, dem das nicht entgangen ist. Der Lehrer bringt eine weitere dunkelblau, leicht glitzernde Geschenkbox hervor, die oben drauf auch noch mit einer silbernen Geschenkrosette verziert ist, hervor.
"Das darf aber eigentlich nicht sein ..."
"Ich weiß auch nicht, wie es dazu kommt", gebe ich unschuldig zurück.
Er fragt alle Mitanwesenden: "Hat irgendjemand kein Geschenk?"
Erst jetzt bemerke ich, dass das bereits das Letzte ist, was er aus seiner Tüte greift. Niemand gibt ihm eine Antwort, woraus er schließt, dass dem nicht so ist und er mir zulächelt. "Dann wollte dir wohl jemand einfach so noch etwas schenken. Das ist doch auch schön!"
Er scheint sich über die Klassengemeinschaft zu freuen und geht, während ich, noch immer verwirrt, auch das zweite Geschenk an mich nehme.
"Was für eine Überraschung", lacht Rosalia leise, "mach sie beide auf!"
"O-Okay ..."
Noch völlig neben der Spur öffne ich zunächst das erste Geschenk. Möglichst achtsam, auch wenn das Papier im Endeffekt sowieso im Mülleimer landet. Rosalia öffnet derweilen auch ihres, doch ich bin schneller fertig.
"Ein Handtaschenspiegel", sage ich zu mir selbst und drehe ihn ein wenig in der Hand. Die Außenseite ist weinrot gefärbt und kleine, weiße Pünktchen sind rundum verstreut.
"Der ist ja süß!" Sie lächelt entzückt, als sie den Spiegel in meiner Hand entdeckt.
Ich öffne ihn, um mein Spiegelbild darin zu begutachten.
Da ich auch immer eine Haarbürste mit mir herum trage, ist ein Handtaschenspiegel keine schlechte Idee gewesen. Ich würde mich zu gerne bei der Person bedanken.
Ein Blick zu Rosalia verrät mir auch ihr Geschenk. Ein kleines Nähset. Für sie ist das mehr als perfekt. Sie strahlt auch über das ganze Gesicht. Ich wende mich wieder meinem Geschenk zu, doch da fällt mir das Zweite wieder ins Auge. Langsam ziehe ich es weiter an mich ran, nachdem ich das erste Geschenk in meine Tasche gesteckt habe.
Wirklich seltsam, dass mir noch jemand etwas geschenkt hat ... Nein, eigentlich ist es nur seltsam, dass die- oder derjenige es anonym macht und nicht persönlich. Ich frage mich warum ... Ich tue ja keinem was. Ganz im Gegenteil, ich hätte mich riesig darüber gefreut, wenn jemand aus meiner Klasse zu mir kommt und einfach so ein Geschenk für mich hat. Zudem kann ich mich dann direkt bei der Person bedanken und nicht wie jetzt, erstmal herausfinden müssen, von wem diese Aufmerksamkeit überhaupt kommt.
Ich öffne die Geschenkbox, was langsamer als zunächst gedacht funktioniert, und stoße auf eine weitere kleine Schachtel darin. Rosalia sieht mir mittlerweile leicht über die Schulter, neugierig wie sie ist. Den Deckel der Schachtel angehoben beginnt sich ein Flau in meinem Magen auszubreiten. Ein kleines Glitzern kommt mir entgegen und ich lege den Deckel zur Seite.
"Das ... ist voll schön!", staunt meine beste Freundin.
"Ja ..."
Es ist ein Anhänger, in der Gestalt einer blauen Blume. Ich nehme ihn raus und stelle fest, dass er wirklich klein und somit leicht zu verlieren ist. Ich lasse ihn für einen Moment in meiner Hand liegen, starre drauf. Rosalia entfernt sich wieder ein wenig von mir.
Wer schenkt mir sowas? Dieser Anhänger ist wirklich schön ... Mit Tendenz zu Edel. Allerdings bin ich mir noch nicht sicher wo dran genau er befestigt werden kann. Für einen Schlüsselbund ist er deutlich zu klein ... Vielleicht eine Kette? Aber warum?
Den Kopf voller Fragen, drehe ich mich zur Seite, um meinen Blick in der Klasse umher schweifen zu lassen. Niemand beobachtet mich oder wartet meine Reaktion ab. Alle sind auf irgendeine Art und Weise mit sich selbst beschäftigt.
Ich muss herausfinden von wem das kommt!

So zu tun, als ob | Sweet Amoris - Nathaniel FFWhere stories live. Discover now