Lilith

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Es regnete in Strömen. Das schöne Herbstwetter hatte sich nun seit einer Woche nicht mehr Blicken lassen. Es war kalt und nass und ekelhaft. Ich tastete hastig nach meinen Wohnungsschlüsseln, was sich jedoch als schwer herausstellte, da meine Finger ein einziger Eisklotz waren. Meine Jackentaschen waren leer. Ich fluchte. Ich musste sie im Chemilabor liegen gelassen haben. Die Wohnung war seit gestern bewohnbar gewesen und zu meinem Glück, hatten die Bauarbeiter auch direkt das aufbauen meiner Möbel in die Hand genommen. Das Mädchen, mit der ich mir die Wohnung teilte, hatte sich noch nicht blicken lassen. Mich störte das jedoch nicht, weil ich dadurch die Küche gestern für mich allein hatte. Doch nun war meine ganze Vorfreude auf einen weiteren schönen Abend verschwunden. Wenn ich Glück hatte, lag mein Schlüssel noch da. Oder ich musste bei einem meiner Brüder übernachten oder... "Entschuldigung? Kann ich vielleicht helfen?" Erschrocken fuhr ich herum. Hinter mir im Regen stand ein Mädchen. Sie war schlank und groß, hatte dunkelbraune Haare, die ihr über die Schultern fielen. Sie hatte braune, große Augen, die von dichten Wimpern umrahmt waren und trug einen dunklen Regenmantel, einen schwarzen Koffer in ihrer rechten und einen Schlüsselbund in ihrer linken Hand. Ich brachte immer noch kein Wort heraus. "Schon gut, du kannst den Mund wieder zu machen. Ich bin Lilith Brook, deine neue Mitbewohnerin." Sie schob den Schlüssel ins Schloss und stieß die Tür zum Treppenhaus auf. "Wir sollten uns vielleicht drinnen besser kennen lernen, findest du nicht?" Ich nickte nur stumm und trat nach ihr ein. Lilith bugsierte geschickt ihren Koffer die Treppe hinauf und schloss oben angekommen die Tür zur Wohnung auf. Der Flur war in schlichtem weiß gestrichen. An den Wänden hingen Bilder von sämtlichen Orten in London. Lilith sah sich kurz um und streifte dann ihre Stiefel ab. "Welche von den Türen führt in mein Zimmer?", fragte sie freundlich. Ich deutete auf eine der hellen Holztüren und verschwand unter dem Vorwand Tee zu machen in der Küche. Ich hatte mir Lilith völlig anders vorgestellt. Natürlich hatte ich ihren Namen gekannt, doch immer wenn ich ihn hörte, klang er, als hätte ich ihn schon hunderte Male ausgesprochen. Ich setzte heißes Wasser auf und starrte nachdenklich aus dem Fenster auf die gerade leere Newman Street. Wir hatten eine durchaus neue und günstige Wohnung ergattert (dank der Hilfe von Mycroft) und ich war stolz auf mein orangfarbenes Zimmer, den Ausblick, die Nachbarn. Lilith hatte sich bei mir gemeldet, nachdem ich den Bericht über die Wohnung und eine suchende Mitbewohnerin online gestellt hatte. Wir hatten uns jedoch noch nie zu Gesicht bekommen, bloß das finanzliche Geklärt. Und jetzt tauchte sie einfach ohne irgendein Wort hier auf und war freundlich zu mir, als wären wir Freunde.

Als der Tee fertig und noch dampfend auf dem kleinen Tisch stand, trat Lilith in die Küche. Sie trug einen langen, dunkelblauen Bademantel und dazu passende Pantoffeln. Ich musterte sie kurz, bevor ich ihr ihre Tasse hinschob. Lilith Blick hing für einen Moment in meinen Augen fest, dann nahm sie einen Schluck Tee und seufzte. "Du bist misstrauisch, habe ich Recht? Weil ich so urplötzlich auftauche und du vorher noch nie etwas von mir gehört hast, schon klar. Ich kann es dir nicht erklären. Es war ein Problem mit der Familie. Und es tut mir Leid. Aber jetzt haben wir es ja geschafft." Ich nickte nur stumm und nippte an meiner Tasse, als plötzlich die Klingel durch die Wohnung dröhnte. "Das Ding ist ja schrecklich", grinste Lilith. Ich brachte ein Lächeln zustande, hastete zu Tür und ließ den Türöffner unten summen. Eine Weile passierte nichts. Dann tauchte plötzlich Ben im Treppenhaus auf. Ich war so überrascht, das ichganz vergaß ein neutrales Gesicht aufzusetzen. Auf seinem Gesicht erschien wieder das bereits vertraute Lächeln. "Guck nicht so. Ich wollte dich eigentlich nicht überraschen, aber ich glaube du hast etwas im Labor vergessen." Er wedelte mit meinem Hausschlüssel vor meiner Nase herum. Nervös lächelnd und dankend nahm ich ihm das kalte Metall ab. Es fühlte sich schön an. "Magst du reinkommen?", fragte ich und bemerkte wie unhöflich ich dieses ganze Gespräch leitete. "Oh, nein danke!", erwiderte Ben und strich sich durch sein nasses Haar. Seine Augen funkelten. "Ich muss nach Hause. Aber wir sehen uns ja am Montag. Genieß deine zwei freien Tage!" Wir verabschiedeten uns und er lief die Treppe hinunter. Zwei Sekunden später fiel die Haustür ins Schloss. "Wer war das?", fragte Lilith. "Ein Kollege", erklärte ich. "Hatte meinen Schlüssel bei der Arbeit vergessen!" "Ah, wo arbeitest du denn?" "Leichenschauhaus. Patologin!" Ich schob den Schlüssel in meine Hosentasche und wandte mich wieder an Lilith. "Und wie wollen wir jetzt weitermachen? Denkst du nicht wir brauchen irgendeinen Plan um hier Ordnung hinein zu bekommen?" Lilith lachte. Ihr Lachen klang kindlich, erhlich, kehlig. Sie fuhr sich durch ihr Haar. "Du klingst wie Sherlock", kicherte sie. Fragend sah ich sie an. "Du kennst meinen Bruder? Ich dachte du wärst neu in der Stadt?" "Ich lese John Watson's Blog", stellte Lilith freudig klar. "Er zitiert deinen großen Bruder gerne. Wie ich gehört habe, hast du ihnen schon bei einem Fall geholfen." Sie zwinkerte. Stolz nickte ich. "Ich habe ihnen Geld für ein Taxi geliehen. Sie hätten sonst den Mörder verloren. Ich war ihre Rettung in letzter Sekunde." "Ja so ungefähr", erwiderte Lilith nur und stellte die leere Tasse auf dem Tisch ab. "Ich glaube ich hau mich hin. Der Tag war echt anstrengend. Ich bin tot und vielleicht sollte ich das nicht bleiben. Wir klären den Rest einfach Morgen." "Okay." Ich zuckte nur mit den Schultern, wusch die Tassen ab und verschwand dann ebenfalls in meinem Zimmer. Ich ließ meine Haare über meine Schultern fallen, schlüpfte in meinen Pyjama und lag noch einige Minuten hellwach da. Ich wusste nicht an was ich denken sollte. An mein neues Leben, meine Brüder oder doch lieber Ben. Alles bereitete mir zur Zeit kopfzerbrechen.

Jules HolmesWhere stories live. Discover now