Fünf vor Zwölf

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Grace:

„Anfangs dachte ich wirklich, du hättest nur Platten von Nirvana." Das Bier schmeckt fast schon zu bitter und dennoch kann ich es nicht lassen einen weiteren Schluck davon zu trinken. Aus der Wohnung hallt gerade To fall in love with you von Bob Dylan.

Dylan hat nichts Besseres zu tun gehabt, als seine Platten aufzulegen, während er sich um das Abendessen gekümmert hat. Sein Dad ist mit Allison und Tyler ins Kino gefahren, nur dass es mir dieses Mal fast so vor kommt, als würde er alles daran setzen zu den alten Zeiten zurückzukehren.

„Dann muss ich dich wohl enttäuschen." Er zwinkert mir fast schon verschwörerisch zu und ich kann nicht anders als zu grinsen.

Am Fuß meines Stuhles steht noch immer der inzwischen leere Teller, während Dylan verzweifelt versucht das Stück Fleisch auf seinem Schoß zu schneiden. - Und obwohl er mit dem Porzellanteller sogar noch eine einigermaßen stabile Unterlage hat, sieht es trotzdem einfach nur komisch aus.

„Tust du nicht", erwidere ich. Nicht mehr. „Danke, dass du mitgekommen bist."

Wir wissen beide wovon ich spreche. Davon, dass er mich unsere alte Wohnung - mein Zuhause - besuchen lassen und davon, dass es ihn nicht im Geringsten gestört hat, als ich es dort nicht mehr ausgehalten habe.

Ich wollte nicht mehr dort bleiben und trotzdem war es keineswegs falsch noch ein letztes Mal dort aufzutauchen. Ich weiß nicht, ob Dylan wirklich Recht damit hat, wenn er sagt, dass ich all das, was in dieser Wohnung passiert ist, nicht mehr ändern kann, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund habe ich das Gefühl jetzt endgültig damit abgeschlossen zu haben.

„Kein Problem", höre ich Dylan schließlich neben mir antworten. „Du hattest deine Gründe, weshalb du dorthin wolltest und ich bin einfach nur mitgekommen."

Sorgsam stellt er seinen Teller ebenfalls an den Fuß seines Stuhls, den er ebenso wie meinen mal eben aus der Küche ausgeliehen hat.

„Was waren deine?" Mein Blick wandert zu dem sich langsam leicht rötlich färbenden Himmel, der vom Balkon aus über den Häusern um uns herum zu liegen scheint. „Gründe, meine ich."

Auf dem Hof unter uns höre ich mehrere Kinder herumschreien, als würden sie irgendetwas spielen. Es ist ironischerweise einmal nicht am regnen, auch wenn mich das nicht daran hindert, mich in meine dicke Jacke zu kuscheln und einen weiteren Schluck von meinem Bier zu nehmen.

Ich hätte das hier nicht tun sollen.

„Weiß nicht." Dylan sieht beinahe so aus, als wüsste er nicht, was er antworten soll. Genauer gesagt, als wüsste er nicht, wie er am besten lügen soll. „Du?"

„Ich?", fragend starre ich zu ihm herüber, ohne mir ganz sicher sein zu können, worauf er jetzt hinaus will.

Er hat es eine ganze Woche nicht genau gewusst und jetzt bin ich der Grund, weshalb er mitgekommen ist, weshalb wir hier sind?

„Du."

„Du weißt, ich hab dir schon einmal gesagt, dass ich das nicht wert bin, oder?", erinnere ich ihn. - Und diese Tatsache ist keineswegs gelogen.

„Hast du", pflichtet er mir bei und fährt starrt nun ebenfalls in die Ferne. Scheinbar hat er es fürs Erste aufgegeben weiter zu Essen.

„Ich bin nicht zufällig auch der Grund, weshalb du mich vor etwa einer Woche von diesem Dach herunter geholt hast?", will ich wissen und streiche mir fast schon beiläufig eine Haarsträhne hinters Ohr. „Aus Gründen, die eher etwas mit einer Art..." Ich beiße mir auf die Lippe.

Er braucht es nicht zu hören, nicht zu wissen, dass ich gerade nicht mehr sicher bin, wofür ich mich entscheiden soll, oder?

„Du hast Angst."

„Ist das so offensichtlich?", spotte ich, kann jedoch nicht anders, als ihn zu mustern. Irgendwie scheint ihm nie wirklich kalt zu sein. Im Gegensatz zu mir trägt er lediglich sein Kapuzensweatshirt.

„Ziemlich, wenn du mich fragst." Er lächelt.

„Na, super."

„Wovor?" Unsere Blicke treffen sich und ich zucke kaum merklich zusammen.

„Das...", beginne ich, halte jedoch Inne. Er darf es nicht wissen. Zwar glaub ich nicht, dass er es absichtlich ausnutzen würde, doch insgeheim weigere ich mich es überhaupt einzugestehen.

„Will ich sehr wohl wissen", beendet er den von mir angefangenen Satz und ich kann nicht anders, als die Augen zu verdrehen.

„Also gut, ich kriege Panik. Zufrieden?", platzt es mir schließlich heraus, ehe ich auch nur ansatzweise versuchen kann, es zurückzuhalten. „Es ist Samstag. Der Tag vor Coras Beerdigung und ein Samstag mit einem verdammten Sonnenuntergang oder etwas, was dem am ehesten nahe kommt. Du weißt genau, dass ich Sonnenuntergänge abgrundtief hasse, aber wenn du mich fragst ist das noch nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimmste ist, dass ich genau weiß, dass es bald vorbei ist. Ich dachte, dass es nichts mehr gibt, was ich aufgeben müsste und trotzdem fällt mir die Entscheidung zu gehen fast schon schwerer, als noch vor einer Woche und das, obwohl Cora tot ist. Der einzige Grund dafür bist du und genau das ist das Problem. Zum ersten Mal ist mir wirklich bewusst, dass es fünf vor Zwölf ist und ich mich langsam entscheiden muss, was ich mache, wenn es wirklich zwölf Uhr ist."

Mir ist noch nie aufgefallen, dass ich reden kann wie ein Wasserfall, wenn ich nur will, doch das ist in diesem Moment auch nebensächlich.

Er weiß es. Vielleicht wusste er es auch vorher schon oder hat es zumindest geahnt, doch jetzt, wo ich es laut ausgesprochen habe, kann ich es nicht mehr zurück nehmen.

„Du weißt, dass du selbst dann noch fünf Minuten hast, um dich zu entscheiden oder?" Er lächelt und auch wenn dieser Versuch mich aufzumuntern mehr als flach ist, kann ich mir ein flüchtiges Grinsen nicht verkneifen. „Und du wirst nicht alleine auf dieser Beerdigung erscheinen."

„Ich kann nicht fassen, dass ich ausgerechnet hier sitze und wie jeder gewöhnliche Mensch bei dem Gedanken an meinen Tod in Panik ausbreche."

Okay, Statement des Tages erreicht.

Ich habe definitiv keine Angst vor dem Tod, nur davor Dylan zurückzulassen und diesen Teil kennt er jetzt. Glücklicherweise reagiert er nicht darauf, dass er derjenige ist, dem ich das momentane Schlamassel zu verdanken habe. - Oder Gefühlschaos, wenn man es so nennen will.

Ich blicke einmal mehr zu ihm herüber und zum ersten Mal fällt mir auf, wie nah wir eigentlich gerade nebeneinander sitzen. - Und, dass er gerade meine Hand hält.

„Was zur Hölle tust du da?" Ich starre erst ihn an, dann unsere Hände, ineinander verschlungen, ohne dass ich auch nur den Drang verspüre seine jemals wieder los zu lassen.

„Panik kriegen, was sonst?", höre ich ihn neben mir antworten, während ich die Wärme spüre, die von seinem Körper ausgeht. „Denn ehrlich gesagt bist du nicht die Einzige."

Auf das, was warWo Geschichten leben. Entdecke jetzt