Nicht so wie es aussieht

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Grace:

Um genau zu sein habe ich mir bisher nie sonderlich viele Gedanken gemacht, wie grausam ich nach dem Aufstehen aussehe, jedenfalls nicht bis zu diesem wolkenverhangenen Dienstagmorgen. Es ist nicht so, dass ich nicht weiß, dass meine Haare in alle Richtungen abstehen oder dass die Ringe unter meinen Augen morgens ganz besonders zu sehen sind, aber in Mums Gegenwart hat mich das nie gestört. Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass Mum unabhängig von der Tageszeit immer schlimmer aussah als ich.

Ich kann nicht anders, als beinahe blind durch Dylans Zimmer zu stolpern. Es ist unglaublich, dass er trotz seiner anstehenden Sozialstunden noch immer im Bett liegt, wobei er im Schlaf völlig anders aussieht. Beinahe so, als wäre er ein paar Jahre jünger und definitiv friedlicher. Gelegentlich schnarcht er sogar ein wenig, aber das ist mir tausendmal lieber, als der bei ihm nicht unwahrscheinliche Raucherhusten. Unter anderen Umständen würde ich Dylan aus dem Bett werfen, aber die vergangene Nacht scheint ihn fast schon mehr mitgenommen zu haben, als mich.

Meine Gedanken wandern erneut zu meinem Alptraum. Normalerweise erinnere ich mich nur dunkel an meine Träume, doch diesen kann ich auch jetzt noch deutlich vor mir sehen. Cora, wie sie sterbend auf dem Asphalt liegt, während ich lediglich regungslos dastehe. Mein Schrei, der mich in die Realität zurückholt und Dylan, der versucht mich auf seine Weise zu trösten.

Ich seufze und fahre mit meinen Fingern über die Ledergravur des Armbands, dass Cora einst für uns gebastelt hat. Sie ist tot und ich am leben. - Und Dylan hat mich schon wieder von meiner schwächsten Seite gesehen.

Schließlich zwinge ich mich dazu den Kloß hinunterzuschlucken, der sich kaum merklich in meinem Hals gebildet hat und öffne Dylans Zimmertür.

Noch immer ein wenig verschlafen schleiche ich durch den Hausflur, bevor ich mich endgültig und zu meiner Überraschung nicht alleine, in der Küche wiederfinde. Dummerweise ist genau das auch der Moment in dem ich mein Aussehen endgültig bereue, was hauptsächlich daran liegt, dass ich Dylans Vater nicht nur mit zerzausten Haaren gegenüber stehe.

„Morgen," bringe ich beinahe selbstbewusst hervor, um die peinliche Stille zwischen uns zu überbrücken. Ich spüre, wie der altbekannte Scham Stück für Stück zurückkehrt. Nur dass es dieses Mal eine andere Art von Scham ist. Es ist weder die Art Scham, den ich aufgrund von Steph ertragen habe, noch der Scham für meine ausgeleierte und verwaschene Kleidung. Eher Verlegenheit und Panik vor den Schlussfolgerungen seines Vaters.

Ich weiß nicht was ich sagen soll, was vor allem daran liegt, dass Höflichkeit bisher wirklich nicht zu meinen Stärken gezählt hat.

Dylans Vater starrt mich geradezu überrascht an, kein Wunder bei den Dingen, die ich bisher erfahren habe. Entweder hält er mich für die neue Raucherfreundin oder am besten gleich seinen One-Night-Stand. Darauf lässt zumindest die Tatsache schließen, dass ich ihm ausgerechnet in diesem Augenblick in Dylans Kapuzensweatshirt, gepaart mit äußerst bequemen Wollsocken in seiner Wohnung herumlaufe.

„Morgen." Dylans Vater blinzelt irritiert, als könne er nicht fassen, weshalb ausgerechnet ich in seiner Küche auftauche. "Was - was genau machst du eigentlich hier?"

Ich beiße mir auf die Lippe, denn eigentlich war genau das die Frage gewesen, die ich versucht hatte zu vermeiden.

„Dylan hat mir angeboten bei ihm zu übernachten", antworte ich schließlich möglichst freundlich, auch wenn ich mich insgeheim dafür ohrfeigen möchte. Selbst wenn das womöglich die Wahrheit ist, besitzt dieser Satz noch genügend Raum, um ihn mit ausreichend Hintergedanken zu füllen.

„Dylan...?", beginnt sein Vater abermals und kratzt sich verlegen am Kopf, als will er nicht glauben, dass ausgerechnet sein Sohn jemanden wie mich mit nach Hause bringt. Bis auf die Augenfarbe scheint sein Vater Dylan kaum ähnlich zu sehen, was mich darauf schließen lässt, dass er die dunklen Haare und die Gesichtsform eher von seiner Mutter haben muss. Dennoch kann ich eine gewisse Nachdenklichkeit in seinem Blick erkennen, die mir auch bei Dylan schon aufgefallen ist.

Auf das, was warWhere stories live. Discover now