Getrennte Wege

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Dylan:

„Wie geht es dir?"

Ich starre auf die gelbliche Tischdecke, als würde ich das nicht schon seit einer halben Ewigkeit tun, das Telefon am Ohr.

Es ist noch nicht lange her, als sie mich das gefragt hat. Grace.

„Gut." Die Lüge kommt geradezu von selbst aus meinem Mund.

„Lüg mich nicht an, Junge", höre ich Lawson antworten und dieses Mal klingt er fast schon beleidigt. Er hat Recht. Für gewöhnlich braucht er nicht sonderlich lange, um die Wahrheit herauszufinden. Das ist es jedenfalls gewesen, was er mir während seiner Zeit im Krankenhaus gezeigt hat.

Dennoch zögere ich. Die Wahrheit. Die Wahrheit ist, dass ich sie nicht retten konnte. Grace hat sich mitten in der Nacht aus dem Staub gemacht und ist bisher noch nicht wieder aufgetaucht. Sie ist tot, da bin ich mir sicher und allein die Tatsache, dass sie irgendwo leblos in der Gasse liegen könnte, ohne das sie irgendwer außer mir vermisst, macht das Ganze umso schlimmer.

„Sie ist weg", nuschele ich in den Hörer und starre auf den Stapel Briefe, den ich vor wenigen Minuten aus dem Briefkasten geholt habe. „Hat sich mitten in der Nacht aus dem Staub gemacht."

„Du konntest ihr nicht helfen."

„Konnte ich nicht", antworte ich. Nicht einmal in ihrer letzten Nacht. Nicht einmal, als ich dachte es endlich geschafft zu haben.

Meine Gedanken schweifen erneut zu dem Zeitpunkt ab, als ich neben ihr aufgewacht bin. - Nur, dass sie nicht da war. Sie nicht und mein Kapuzensweatshirt hat sie ebenfalls nicht zurückgelassen.

Es hat nicht lange gedauert bis Dad wach geworden ist. Dad und Allison und Tyler, die nichts Anderes wissen wollten als die Wahrheit. Jetzt wissen sie es. Nur, dass er dieses Mal geradezu stolz auf mich ist, weil ich es versucht habe. Es grenzt fast schon an Ironie, dass wir ausgerechnet jetzt wieder damit angefangen haben eine Familie zu sein.

„Du hast es versucht."

Ich wende meinen Blick von der Tischdecke ab. Habe ich das?

Grace - das Mädchen, das ich liebe - ist wahrscheinlich tot, verdammt. Sie ist tot und alles was sie hinterlässt ist Leere. Vielleicht ist es genau das, was sie schon Anfang der Woche wusste. Dass es niemanden gab, um sie noch zu retten und sie es trotzdem nicht lassen konnte sich noch eine letzte schöne Woche zu machen.

Genau das hat sie jedenfalls anfangs behauptet. Nur warum ist dann ausgerechnet diese letzte Nacht passiert?

„Das habe ich", spreche ich die Worte aus, die Lawson hören will. Ich habe es so oft versucht.

Meine Gedanken wandern zu dem Abend von Tylers Fußballspiel, zu dem Ausflug an den Strand und der Abend auf dem Balkon. Grace in ihrem schwarzen Kleid, Grace auf dem Dach, während der Wind ihr die roten Haare ins Gesicht weht und ihre Grübchen, die immer nur dann zum Vorschein kamen, wenn sie lächelte.

Mein Jeep ist zurück - die Typen aus der Werkstatt haben gestern Abend angerufen - und trotzdem wird sie nie wieder fluchend neben mir sitzen, das Gesicht zu einer Miene wie drei Tage Regenwetter verzogen und gleichzeitig mit sarkastischen Bemerkungen um sich werfend.

„Komm in den nächsten Tagen vorbei, Junge", erwidert Fred am anderen Ende. „Komm einfach vorbei, aber lass die Zigaretten zu Hause."

Ich seufze. Er weiß, dass etwas nicht stimmt und trotzdem vermeidet er es mir jedes einzelne Geständnis aus der Nase zu ziehen. Gleichzeitig muss ich bei seiner Anspielung auf mein Zigarettenkonsum schmunzeln. Das hat sie auch immer getan.

„Danke." Wenn er nur wüsste wie dieses Wort im Moment der Wahrheit entspricht. „Aber ich rauche nicht mehr."

„Ist sie der Grund?" Ich habe das Gefühl, dass Lawson am anderen Ende der Leitung lächelt. Kein glückliches Lächeln, aber zumindest ein versöhnliches.

„Kann sein."

Ja verdammt, ist sie.

Um genau zu sein ist sie für alles, was ich nach dieser Woche getan und nicht mehr getan habe der Grund.

„Meld' dich morgen bei mir, Junge."

Versprochen.

„Mach' ich." Ich weiß nicht einmal, wann das mit den Zusagen gegenüber Lawson begonnen hat. Wahrscheinlich im Krankenhaus, doch ob das jetzt vor oder nach meinem ersten Zusammentreffen mit Grace war, daran erinnere ich mich schon längst nicht mehr. Fest steht lediglich, dass er immer da war, wenn es darum ging mich mit Fragen über meine Probleme zu löchern und mir gleichzeitig damit aus der Patsche zu helfen.

„Bis morgen", höre ich den alten Mann am anderen Ende der Leitung sagen.

„Bis morgen."

Mit diesen Worten lege ich auf.

Mein Blick wandert in Richtung des Briefstapels. Die Polizei war bisher noch nicht wegen Grace hier, Dad ist arbeiten und Allison und Tyler in der Schule. Da ich heute Spätschicht habe, gehört der Morgen mir ganz allein, was fast schon grausam ist, jetzt wo Grace nicht mehr hier ist.

Mit einer einzigen fließenden Bewegung ziehe ich den Stapel zu mir heran, nur um ihn dann beinahe schematisch nach Briefen für Dad, Allison, Tyler und mich einzuteilen.

Das meiste sind Rechnungen für Dad. Rechnungen und Firmenkontakte, wobei ich dieses Mal davon ausgehen kann, dass Dad in der Lage ist sie zu bezahlen.

Moms Tod hat ein Loch in dieser Familie hinterlassen und auch wenn es immer noch da ist, haben wir es geschafft uns irgendwie wieder zusammen zu raufen. - Dank Grace, die nun ebenfalls tot ist.

Ich widme mich wieder den Briefen, mustere die Absender und sortiere jeden einzelnen nach Empfänger bis nur noch einer übrig bleibt.

Ich stutze. Der Umschlag ist fast schon zu weiß und riecht gerade so, als wäre er direkt aus der Papierpresse gekommen. Gleichzeitig enthält er lediglich meinen Namen und meine Adresse. Absender unbekannt.

Ich spüre wie sich irgendetwas in meinem Inneren verändert. Wie ich langsam realisiere worauf das hier hinaus läuft, da ich nur eine einzige Person kenne, die freiwillig Briefe an mich verschicken würde.

Meine Finger fahren über das Papier und schließlich über ihre Schrift, ehe ich endgültig beschließe es zu riskieren.

Ich mache mir nicht die Mühe erst nach einem Brieföffner zu suchen. Stattdessen versuche ich den Brief mit meinem Zeigefinger zu öffnen, wobei ich es beinahe schaffe ihn zu zerreißen. Schließlich ziehe ich das Stück Papier hervor. Es ist nicht wirklich hochwertig, aber allein der Inhalt reicht aus, um mir endlich sicher sein können.

Auf das, was warHikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin