Vereinbarungen der anderen Art

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Dylan:

Die Sohlen meiner Gesundheitsschlappen quietschen bei jedem Schritt und ehrlich gesagt bin ich froh, dass mich selbst meine Familie bisher nicht mit ihnen gesehen hat. Allisons Witze darüber kann ich mir jedenfalls auch so vorstellen.

„Essen für Fred." Ich weiß selbst nicht woher ich diesen Enthusiasmus her nehme, denn irgendwie ist das hier nicht meine Lieblingsbeschäftigung und das Gespräch am Frühstückstisch ist auch nicht das gewesen, was ich mir ausgemalt habe. Wahrscheinlich hat Grace jetzt ein blaues Schienbein, was wiederum bedeutet, dass ich - spätestens wenn ich wieder zu Hause bin - ihr beim Fluchen zuhören kann.

Vorsichtig stelle ich Lawson sein Essen wie praktisch jeden Morgen auf den Nachttisch, was mich jedoch nicht daran hindert, bei dem Anblick die Nase zu rümpfen. Krankenhaus-Essen ist nicht wirklich mit einem Fünf-Sterne-Menü zu vergleichen.

„Du stinkst nach Rauch, Junge", brummt Frederick zur Begrüßung und ich muss unweigerlich grinsen. Manchmal wünschte ich Grace könnte ihn kennen lernen. In diesem Punkt wären sie sich jedenfalls einig.

„Liegt wohl an der morgendlichen Zigarette", erwidere ich dennoch knapp. Eigentlich müsste ich längst zum nächsten Patienten, doch Lawson hält mich zurück.

„Was ist mit deiner Freundin?"

Sie hat vermutlich Schmerzen am Schienbein.

„Sie lebt noch."

Fred zieht fragend die Augenbrauen hoch. „Und damit sind wir beim eigentlichen Thema oder liege ich da falsch?"

Ich nicke.

Es ist mir ein Rätsel wie er es immer wieder schafft meine Gedanken zu erraten. Wahrscheinlich liegt es an der Weisheit des Alters oder zu vielen Erfahrungen, auch wenn ich nicht glaube, dass Letztere auf diesem Gebiet basieren.

„Sie wohnt also immer noch bei dir." Seine Frage klingt mehr wie eine Feststellung, während das Interesse, dass in seinen Augen aufblitzt, unübersehbar ist.

"Sie wohnt mehr oder weniger bei mir, beschwert sich über alles und jeden und ist bisher die Einzige meiner Freunde, die es für längere Zeit mit meiner kleinen Schwester aushält."

„Sie beschwert sich also wirklich über alles?" Lawson runzelt die Stirn und mit einem Mal sieht er älter aus, als er ist. Dennoch schafft er es auch dieses Mal darüber zu schmunzeln.

„Ginger -", ich stocke. „Grace hat einen überdurchschnittlichen Hang zu Sarkasmus, Ironie und Flüchen."

„Grace also..." Frederick nickt beinahe bestätigend. Draußen hat es inzwischen aufgehört zu regnen, doch Sommerwetter kann man es auch nicht nennen.

Ginger hockt womöglich gerade in meinem Zimmer und wühlt meine Sachen durch. Vielleicht sollte ich sie am Ende der Woche dazu bringen es wieder aufzuräumen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich weigert ist dabei ziemlich gering. Außerdem bezweifle ich, dass Grace genau das vor ihrem Tod noch erledigen wollte.

„Grace", wiederhole ich und entscheide mich schließlich dafür ihm wenigstens ansatzweise von dem aktuellen Stand meines Lebens zu berichten. „Ich hab sie vor ein paar Tagen auf dem Dach des Krankenhauses davon abgehalten zu springen und nun ist ihre kleine Schwester tot. Ich habe ihr daraufhin versprochen, dass ich versuchen werde ihr Leben innerhalb einer Woche wieder gerade zu biegen und nun ist sie aus dem Heim in dem sie eigentlich wohnen sollte abgehauen, um bei mir einzuziehen."

„Ich nehme an, dein Vater weiß von all dem nichts."

„Nein", antworte ich. „Und das wird auch so bleiben."

Fred sieht mich nur aufmerksam an. Die Haare, die er noch hat, stehen in alle Richtungen, aber selbst das scheint ihn nicht davon abzuhalten mir zuzuhören.

„Hören Sie", beginne ich wieder. „Sie kommt gut mit meinen Geschwistern klar, hat zu allem und jeden einen Kommentar parat und ist gleichzeitig..."

Diejenige, die mir vor einigen Tagen weinend in den Armen lag und der ich versprochen habe ihr Leben zu verbessern. - Und das, obwohl sie selbst nicht einmal daran glaubt.

„Du hast ihr versprochen sie auf irgendeine Art und Weise zu retten, weißt aber selbst nicht, ob es dir gelingt." Freds Worte klingen beinahe wie die Schlussfolgerung zu einer mathematischen Formel.

„So in der Art." Ich zwinge mich dazu ihn wenigstens anzusehen.

„Was passiert nach dieser Woche, Junge?" Lawson scheint ernsthaft interessiert, obgleich ich nicht weiß, was ich davon halten soll. „Wenn es dir nicht gelingt, meine ich."

„Sie wird das tun, was sie schon vor einer Woche tun wollte."

Wirklich eine akkurate Umschreibung, Dylan.

„Und du wirst sie nicht aufhalten." Freds Stimme klingt erstaunlich rau, jedoch keineswegs anklagend. Womöglich sollte ich ihm dankbar dafür sein, denn jeder andere hätte Grace vermutlich sofort in die Psychiatrie eingewiesen.

„Es stört Sie nicht, dass ich sie das durchziehen lasse?"

„Ich denke sie hat ihre Gründe", murmelt Frederick. „Vor allem, weil sie zu glauben scheint, dass es niemanden mehr gibt, der sie davon abhalten könnte. Und trotzdem wünscht du dir, dass du derjenige wärst, weil du genauso gut weißt, dass dir ihr Tod weh tun könnte."

„Wir sind kein Paar", erwidere ich gepresst, während ich mich insgeheim darüber ärgere, dass er schon wieder richtig liegt. Ich will nicht, dass sie geht und gerade diese verdammte Unwissenheit, die Tatsache, dass ich sie jederzeit verlieren könnte, ist es, die mich in den Wahnsinn treibt.

„Das habe ich nie behauptet."

„Ich weiß." Ich zwinge mich zu einer halbwegs neutralen Miene. „Und damit sind Sie heute so ziemlich der Erste, Fred. - Abgesehen von Grace."

Ginger hätte vermutlich wieder einen Kommentar bereit gehalten. Irgendetwas zwischen Ironie und Sarkasmus mit einer Portion tiefschwarzen Humor.

Ich starre wieder zu Lawson. Sein Essen ist längst überfällig und auch Schwester Ratched müsste jeden Augenblick bemerken, dass die Hälfte der Station noch auf ihr Frühstück wartet. Sozialstunden sind wirklich nicht das, was ich jemals in meinem Leben erreichen wollte.

„Du solltest es versuchen", antwortet Frederick schließlich.

„Was?", fragend starre ich zu ihm herüber.

„Versuch sie zu retten." Es klingt fast wie eine Anweisung für eine Vereinbarung. Eine Vereinbarung der Anderen Art. „Du hast nur noch diese eine Woche, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, Junge. Selbst wenn sie danach gehen sollte, so bleibt dir immer noch die Erinnerung daran und die Tatsache zu wissen, dass du jede einzelne Chance genutzt, alles versucht hast. Vielleicht wird es am Ende weh tun, aber es gibt Dinge, die es wert sind."

„Sie wissen, dass das ziemlich kitschig klingt, oder?" Ich muss schmunzeln. So ähnlich hat Grace es auch formuliert. Jedenfalls soweit ich mich erinnere. „Der verschrobene Fred gefiel mir irgendwie besser."

Nun ist es Fred, der schmunzelt.

„Er wird schneller zurückkommen, als du denkst, Junge."

Auf das, was warWo Geschichten leben. Entdecke jetzt