Der sicherste Ort des Sonnensystems

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Dylan:

Meine Hand tastet nach dem Lichtschalter meiner Nachttischlampe, während ich gleichzeitig auf den Display meines Weckers starre.

3:07 pm. Es ist mitten in der Nacht. - Und es regnet draußen. Jedenfalls prasseln die Regentropfen in regelmäßigen Abständen gegen mein Fenster.

Neben mir hockt noch immer eine zitternde Grace, die verzweifelt versucht nicht zu zittern und ich kann nicht anders, als ihr die verbliebene Wohnzimmerdecke über die Schultern zu legen, was mir prompt einen warnenden Blick einbringt.

„Wer war es?", will ich schließlich wissen, wobei ich es mir eigentlich denken kann.

„Wer war was?", murmelt Grace. Sie schlingt ihre Arme, um die inzwischen angewinkelten Beine, als ob es ihren Körper irgendwie davon abhalten könnte, zu frieren.

„Die Person in deinem Alptraum." Ihre roten Haare sind Schweißnass und fällt ihr in einzelnen, aber feuchten Strähnen über die Schultern. „War es Cora?"

„Es war Steph." Graces Worte klingen leiser als zuvor, während sie entschuldigend zu mir herüber sieht. Wahrscheinlich ist es ihr unangenehm mich schon zum zweiten Mal durch ihre Alpträume zu wecken.

„Was ist passiert?"

Sie seufzt. „Ich denke nicht, dass du das wissen willst."

„Denkst du, dass ich es nicht wissen will oder dass ich es nicht wissen soll", hake ich nach und ahne bereits, dass sie wie so oft auf die für sie typische Weise auf meinen Kommentar reagieren wird.

„Letzteres", erwidert Grace leiser als zuvor und ich bin fast schon enttäuscht, dass sie dieses Mal nicht die Augen verdreht oder am besten gleich mit möglichst viel Spott antwortet.

Die Sache scheint Ginger ziemlich mitgenommen zu haben, wenn sie nicht einmal kontert und irgendwie ähnelt die Tatsache, dass wir hier mitten in der Nacht nebeneinander hocken dem Augenblick, als sie vorletzte Nacht aus ihrem ersten Alptraum aufgewacht ist.

„Du solltest die Sache mit meinem Dad auch nicht wissen und trotzdem hast du dich eingemischt", versuche ich es erneut und schaffe es sie wenigstens zum Schmunzeln zu bringen.

„Es ist nicht wirklich etwas, was sich mit dem Verhalten deines Dads gleichsetzen lässt", entgegnet Grace schließlich und sieht zu mir herüber. „Steph ist, war anders. Vor allem wenn sie getrunken hat, was ehrlich gesagt eine Art Dauerzustand war."

„War sie betrunken?" Ich erwidere ihren Blick einmal mehr. „In deinem Traum, meine ich."

Sie nickt. „Oh ja." Ihr Lächeln ist alles andere als glücklich und dennoch reicht es aus, um ihre Grübchen zum Vorschein zu bringen. „Du glaubst gar nicht wie sehr."

Der Sarkasmus in ihrer Stimme ist kaum zu überhören.

Manchmal frage ich mich, ob sie ihre Vergangenheit bereut. Schließlich ist sie der Grund dafür, dass sie diejenige geworden ist, die sie heute ist. Vielleicht wäre sie unter anderen Umständen weder sarkastisch veranlagt, noch suizidgefährdet. - Und sie hätte keine Alpträume.

„Tust du es nie?" Es ist Grace Stimme, die mich aus meinen Gedanken reißt.

„Was?"

„Alpträume haben." Jetzt wirkt sie wirklich nachdenklich und irgendwie steht es ihr sogar. Ich meine sie ist nicht unbedingt verblödet für jemanden, der aus ihren Verhältnissen kommt.

„Kann sein."

Es ist schon eine ganze Weile her, als ich welche gehabt habe und es ist noch länger her, als ich jemanden davon berichtet habe. Und dennoch erinnere ich mich allzu genau daran, wie es ist schweißgebadet aufzuwachen, nur um dann die halbe Nacht wachzuliegen, an die Decke zu starren und sich einzureden, dass nichts von all dem der Realität entspricht.

„Kann sein?" Ginger klingt schon fast empört.

Ich nicke.

„Manchmal", beginne ich. „Manchmal kommt all das wieder, was ich eigentlich vergessen wollte."

„So wie dein Dad?"

So wie Dad. - Und Mum, aufgeschlagen auf dem Bürgersteig.

Wenn ich eines an ihr hasse, dann ist es, dass sie es immer wieder schafft meinen wunden Punkt zu treffen, nur um dann noch darauf herumzureiten. Beinahe, als bräuchte sie die Bestätigung, dass es mir genauso geht wie ihr. Irgendwie ist es mir lieber gewesen als sie noch der Meinung war, dass die ganze Welt keine Ahnung von ihrem Schmerz hat.

Andererseits hätte ich sie unter diesen Umständen niemals wirklich kennengelernt. Sie wäre lediglich diejenige gewesen, die sich aus Verzweiflung vom Dach eines Krankenhauses gestürzt hat. Ein Gesicht von vielen in einer schier endlosen Menge.

„So wie deine Mum", erwidere ich schließlich und Grace verzieht prompt das Gesicht.

„Nenn sie Steph."

Ich verdrehe die Augen. „So wie Steph."

Ist es Ironie, dass Dad noch nicht komplett versagt hat? Schließlich bin ich noch nicht dazu übergegangen ihn nur anfällig mit seinem Vornamen anzusprechen.

„Sie war an dem Tag ziemlich betrunken, weißt du", murmelt Ginger nach einer Weile und irgendetwas sagt mir, dass sie von Steph spricht. „An dem Tag und in meinem Traum."

Sie seufzt und sieht zu mir herüber, als erwartet sie, dass ich ihr auch wirklich zuhöre. Ich kann nicht anders, als innerlich darüber zu schmunzeln. Vor zwei Tagen hat sie mir gerade einmal widerwillig ihren Nachnamen genannt.

„Ich war arbeiten - Zeitungen austragen, um genau zu sein - in der Hoffnung Cora ihre Ballettstunden finanzieren zu können und sie lag betrunken auf dem Küchentisch. Um sie herum stapelten sie die Bierflaschen und als sie herausgefunden hat, dass ich arbeiten gehe ist sie völlig ausgerastet."

Ich erwidere ihren Blick.

„Verdammt, vielleicht habe ich sie auch ein wenig provoziert", flucht Ginger, ehe sie endgültig fortfährt. „Sie hat mich daraufhin mit Flaschen beworfen und ein paar Splitter sind unter anderem in meinen Händen stecken geblieben. Es hat ein wenig geblutet und gebrannt und alles, was geblieben ist, sind die Narben, auf die du manchmal heimlich starrst, weil du denkst, dass ich es nicht bemerken würde. Das war der Grund, weshalb ich mit Cora für eine Nacht die Wohnung verlassen habe. Ich habe es wirklich geschafft ein Motel für uns beide aufzutreiben, auch wenn Coras Ballettstunden damit so gut wie beendet waren."

„War das so auffällig?"

„Nur als wir uns auf dem Dach getroffen haben." Der Spott in ihrer Stimme ist kaum zu überhören. Ihr Blick schweift für einen kurzen Augenblick selbst zu den Narben an ihren Händen.

„Wahrscheinlich sollte ich dir jetzt sagen, dass Steph verschwunden und du hier sicher bist", entgegne ich mit einem Lächeln.

„Versuch es erst gar nicht", brummt sie und lehnt sich langsam zurück. Jetzt wirkt sie doch ein wenig müde. "Sie kommen alle irgendwann zurück. - Zumindest in unseren Träumen. Selbst wenn das hier der sicherste Ort im ganzen Sonnensystem wäre, würden sie zurückkehren."

„Vielleicht ist es das ja." Ich bringe mich dazu meine Nachttischlampe wieder auszuschalten und kann mir ebenso wenig ein Gähnen verkneifen.

Grace seufzt. „Träum weiter, Dylan."

„Trotzdem", erwidere ich leise. „Mach dir nicht allzu viel Gedanken darum. Nicht meinetwegen, sondern deinetwegen."

„Das sagst ausgerechnet du." Gingers Stimme ist nicht mehr als ein Nuscheln und irgendetwas sagt mir, dass sie nicht die halbe Nacht wachliegen wird.

„Versuch zu schlafen, okay?", murmele ich nach einer Weile blicke durch die Dunkelheit zu ihr herüber. Sie wirkt beinahe glücklich, jedenfalls ist ihr Mund dieses Mal zu einem Lächeln verzogen.

Mein Kopf versinkt ein wenig tiefer in mein Kopfkissen. Draußen hat es aufgehört zu regnen und insgeheim bin ich sogar froh darüber. Es hat in letzter Zeit zu oft geregnet.

Auf das, was warWhere stories live. Discover now