Nicht so wie es aussieht

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„Ja, ich habe sie dazu gebracht bei mir zu übernachten", höre ich Dylans Stimme schließlich hinter mir. Immerhin ist er inzwischen aufgestanden. „Es - Es ist allerdings nicht so wie es aussieht."

Nicht so wie es aussieht.

Ich verdrehe die Augen. Dieses Klischee von einem Satz hat mir gerade noch gefehlt.

„Sondern?" Sein Vater zieht fragend die Augenbrauen hoch. Ich kann es ihm nicht verübeln.

„Sie", beginnt Dylan erneut. „Sie ist eine Klassenkameradin von mir und ich gebe ihr Nachhilfe."

„In den Ferien?"

Ich kann nicht anders, als fast schon verzweifelt aufzustöhnen.

„Sie ist besonders schlecht in der Schule."

Ich nicke, obwohl ich ihn am liebsten schlagen würde. Erst hält mich dieser Idiot davon ab zu sterben und jetzt stellt er mich auch noch als geistig benachteiligt dar.

„Und deshalb lässt du sie in deinem Bett übernachten", Seine Frage klingt mehr wie eine Feststellung.

„Genau genommen habe ich nur auf der Luftmatratze neben seinem Bett übernachtet", wende ich mit dem üblichen Sarkasmus ein. „Und das auch nur, weil er darauf bestanden hat."

„Du..?", Dylans Vater starrt mich nahezu schockiert an, als wäre ich diejenige gewesen, die darauf bestanden hätte zu ihm ins Bett zu steigen.

„Ihr Sohn hat einfach nicht zugelassen, dass ich auf dem Sofa übernachten muss", füge ich schließlich hinzu, woraufhin sein Vater sichtlich erleichtert wirkt. Nur die Sache mit Dylans Pullover scheint nicht so richtig ins Bild zu passen und wirft womögliche Fragen auf, die ich ihm vorerst nicht erklären werde; Denn die Tatsache, dass sein Sohn hat, mich vom Selbstmord abzuhalten, wird er vermutlich nicht ganz so schnell verkraften.

„Ich schätze es ist an der Zeit fürs Frühstück?", unterbricht Dylan schließlich die peinliche Stille zwischen uns. Unter anderen Umständen wäre ich ihm vielleicht sogar dankbar gewesen, doch allein die Tatsache, dass er mich als geistig minderbemittelt dargestellt hat, um seine Ausrede glaubhaft zu machen, verlangt nach Rache.

„Ja, setz dich. - Setzt euch ruhig", murmelt nun auch Dylans Vater, als wäre es an der Zeit wieder zu höflicheren Gesprächen überzugehen. „Ich bin übrigens Don O'Malley."

„Grace", erwidere ich dieses Mal ein wenig freundlicher, auch wenn ich mich zwingen muss, so etwas wie ein Lächeln überhaupt zustande zu bringen.

Eine halbe Stunde später sitze ich jedenfalls an Dylans Frühstückstisch, umringt von Dylan, Allison, Tyler und Dylans Vater, wobei Letzterer mir inzwischen zum zweiten Mal erklärt, dass er es vorziehen würde, wenn ich ihn einfach Don nennen würde.

Wüsste ich es nicht besser, hätte ich sie für eine glückliche Familie gehalten. Eine Familie, die ich mir früher nur allzu oft gewünscht habe, aber inzwischen weiß ich es besser. Obwohl Don bisher abwechselnd freundlich und irritiert war, ist das Misstrauen in seinem Blick gegenüber Dylan geradezu unverkennbar. In Allison hingegen scheint er noch immer seine kleine Tochter zu sehen, auch wenn selbst ich es inzwischen besser weiß.

„Kann mir mal jemand den Kakao reichen?", es ist ausgerechnet Allison, die mich aus meinen Gedanken reißt. Ich bemerke wie Dylan ihr die Tüte herüber reicht.

„Wie lange bleibst du eigentlich?", fragt Tyler mich schließlich.

„Solange sie braucht, um Mathe zu verstehen", mischt sich Dylan ein.

Na super! Jetzt war ich auch noch unbegabt in der Schule.

„Wie lange willst du mich denn hier behalten?" Ich zwinge mich zu einem Grinsen, was Tyler auch erwidert.

„Länger."

Ich kann nicht anders, als bei seiner Antwort zu schmunzeln, während ich in meinem Rührei herumstochere. Soweit ich mich erinnern kann ist es das erste Mal, dass ich überhaupt gemeinsam mit einer Familie am Frühstückstisch hocke und sogar freiwillig mit ihr kommuniziere. Denn selbst wenn es nicht meine Familie ist, habe ich irgendwie dieses seltsame Gefühl, nicht völlig ausgeschlossen zu sein.

„Hast du heute Morgen schon etwas vor?", fragt mich Allison, während sie einen Schluck von ihrem Kakao nimmt. Sie sieht beinahe niedlich aus mit der Schokolade, die überall um ihren Mund verteilt hat. Fast wie -

Ich halte Inne. Fast wie Cora, fast wie meine Schwester. Einst ist es Cora gewesen die mir auf diese Art und Weise beim Frühstück gegenüber gesessen hat, nun ist es ausgerechnet Dylans kleine Schwester. In meinen Gedanken formt sich langsam aber sicher die Idee, Cora einfach im Leichenschauhaus aufzusuchen, doch dafür müsste ich Dylan fragen, ob er mich mit ins Krankenhaus nimmt. Außerdem würde ein Besuch im Leichenschauhaus auf das Gleiche hinauslaufen, wie meine Anwesenheit auf Coras Beerdigung. Sie würden mich wieder in dieses Kinderheim stecken und hoffen, dass ich mehr oder weniger weiter lebe. Dylan lässt mir immerhin die Wahl, ob ich Leben oder sterben will. Nur dafür muss ich erst die verdammte Woche hinter mich bringen.

„Ich muss noch etwas besorgen", antworte ich schließlich wahrheitsgemäß, wobei ich ihr die Art dieser Besorgung verschweige. Wenn es Cora gewesen wäre, hätte ich meinen Besuch im Heim vermutlich verschoben, doch Allison ist ihr nicht sonderlich ähnlich.

„Hast du heute Nachmittag - ?"

„Allison", fährt Dylans Vater ihr schließlich dazwischen, was diese jedoch keineswegs verstummen lässt. Stattdessen scheint es sie nur noch zum weiter reden zu animieren.

„Ich will doch bloß etwas mit Grace unternehmen, bevor sie hier vor Langeweile stirbt. Außerdem leistet Dylan morgens sowieso seine Sozialstunden ab."

Ich merke, wie sich Dylans Blick bei dem Wort Sozialstunden augenblicklich verfinstert.

„Dafür hast du auch noch ein anderes Mal Zeit", murmelt Don geradezu beiläufig, wobei er Allison jedoch einen Blick zuwirft, der sie endgültig zum Schweigen bringt. Seine väterliche Autorität scheint er bei ihr jedenfalls noch nicht verloren zu haben.

„Stimmt", wirft nun auch Tyler ein. „Sie bleibt ja länger."

Er mustert mich geradezu interessiert, während ich mir das restliche Rührei in den Mund schiebe. In gewisser Weise ähnelt seine Miene der von Cora mit ihrer sorglosen Genügsamkeit.

„Dann gehe ich davon aus, dass sie auch noch da ist, wenn ich heute Abend von der Arbeit wieder komme", seufzt Don und unterbricht damit abermals meine Gedanken. Sein Blick wandert zu Dylan und erneut glaube ich eine Warnung, gemischt mit einer gewissen Enttäuschung zu erkennen. Enttäuschung, weil er etwas getan hat, dass sein Vater entweder nicht versteht oder nicht wahrhaben will.

„Keine Sorge, Dad", erwidert Dylan, während sein Vater nach seiner Jacke greift. „Du wirst sie vermutlich noch häufiger antreffen."

„Das will ich hoffen. " Ich weiß nicht, ob es sich bei seiner Aussage um einen Spaß handelt, doch irgendetwas sagt mir, dass er es ernst meint. „Ach und Dylan - "

„Hm?"

„Versaue es nicht."

Dylan schweigt, obwohl wir beide wissen, dass es da nicht mehr viel zu versauen gibt.

Auf das, was warWhere stories live. Discover now