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Als ich das Klassenzimmer betrete, verstummen alle Gespräche. Sie alle haben die Gerüchte gehört, die Schwestern erzählen sich ja untereinander davon - war doch klar, dass irgendwer irgendwann was aufschnappt. Und jetzt wollen sie wissen, was davon wahr ist und was ein Hirngespinst der Plaudertaschen unter uns.

Kann es wirklich sein, dass Muna, die Muna, nach zehn Jahren wieder gesprochen hat? Das ist doch unmöglich, ihr Gehirn ist doch Matsch - oder etwas doch nicht? Ist es wahr, dass hier in der Psychiatrie für Kinder und Jugendliche ein Wunder geschehen ist?

Ja! Ja es ist wahr. Und ich denke man kann das als Wunder bezeichnen - zumindest fühlt es sich so an. Es fühlt sich an wie ein wahres Wunder, wie ein Geschenk einer höheren Macht. Jeder Laut, der über meine Lippen dringst, jedes Grunzen - und sei es noch so unverständlich - wird gefeiert.

Jeder möchte wissen, wie sich meine Stimme anhört. Ist sie hoch oder tief? Weich oder hart? Rolle ich das R oder spreche ich in einem seltsamen Dialekt?

Niemand weiß es bisher, auch wenn Agathe mir über Gerüchte erzählt hat, laut denen ich stottere, die halben Worte verschlucke oder mit einem französischen Akzent spreche. Ich wüsste echt gerne, wer das letzte Gerücht in die Welt gesetzt hat.

Gerücht Nummer Zwei stimmt leider, denn nicht immer hören sich meine Worte so an, wie sie es sollen. Vor allem die letzte Silbe muss immer und immer wieder dran glauben, auch wenn ich mich noch so anstrenge.

Eines der beliebteren Mädchen kommt auf mich zu.

"Guten Morgen, Muna!", flötet sie und wartet gespannt auf meine Antwort - sollte ich denn antworten. Ich sehe, dass ihr Lächeln falsch ist, sie glaubt nicht an die Gerüchte.

Mein Bauch fühlt sich seltsam an. So, als würde er auf und ab springen. Meine Hände sind schweißnass und mein Herz pumpt mindestens doppelt so viel Blut wie sonst.

Ich lächle das Mädchen an - jedenfalls glaube ich, dass das ein Lächeln ist. Sicher bin ich mir da nie, dafür fehlt mir die Übung.

Für ein paar Sekunden wirkt das Mädchen wie zu Stein erstarrt. Dann strahlt sie zurück. Dieses Mal ist ein echtes Lächeln.

Getuschel bricht los, zuerst leise, doch dann breitet es sich wie eine Welle durch den ganzen Raum aus.

"Hast du gesehen - sie lächelt!"

"Warum sagt sie denn nichts?"

"Ich habs euch doch gesagt, sie kann nicht sprechen!"

"Halt die Klappe, vielleicht hat sie einfach keinen Bock auf dich?"

Immer noch schweigend mache ich mich auf den Weg zu meinem Platz in der mittleren Reihe. Der Weg fühlt sich doppelt so lange an wie er sonst ist. Die Blicke der anderen bohren sich in meinen Rücken. Ich hasse ihre Aufmerksamkeit. Können sie nicht woanders hinstarren? Dort drüben hängt ein neues Plakat, können sie nicht das anschauen?

All diese Jahre habe ich mir ausgemalt, wie die anderen reagieren würden, wenn ich endlich mal was sage. Ich habe ihre erstaunten Gesichter schon vor mir gesehen, ihr Getuschel gehört. Doch jetzt wo ich hier bin, jetzt wo ich die Chance hätte all meine Wünsche Realität werden zu lassen, habe ich Angst. Solche Angst, dass ich kein Wort herausbringe. Es fühlt sich an, als hätte ich einen Knoten in der Zunge.

Endlich bin ich an meinem Platz. Ich setze mich, lege die Hände auf den Tisch und starre auf das Holz. Wo ist eigentlich Nura? Entlassen wurde sie nicht, das hätte mir Agathe erzählt. Vielleicht ist sie krank? Die Ärzte haben gestern Abend über einen Magen-Darm-Virus diskutiert, der gerade die Runde macht. Ja, das muss es sein. Wahrscheinlich hat sie sich den eingefangen. Zum tausendsten Mal lese ich die Sprüche durch, die ehemalige Schüler in die Bank eingeritzt haben.

Der Platz neben mir ist auch noch frei. Normalerweise sitzt dort Kathi. Sie fehlt immer wieder mal, immer wenn sie einen psychotischen Schub hat und ihr Zimmer aus lauter Angst nicht mehr verlassen kann. Niemand zwingt sie mehr dazu. Das letzte Mal hat sie mitten in der Stunde einen Schreikrampf bekommen. Sie hat ewig nicht mehr aufgehört, nicht mal als die Ärzte ihr ein Beruhigungsmittel gegeben haben. Das setzt sonst jeden schachmatt. Nur Kathi nicht. Ihre Psychose ist stärker als jedes Mittel, das bis jetzt auf dem Markt ist. Ihre Angst hat sie fest im Griff und kein Beruhigungsmittel kann etwas daran ändern. Wenn sie ihre Medikamente genommen hat, weint sie viel, wenn nicht schreit sie und blickt sich dauernd nach Verfolgern um, die nur sie wahrnehmen kann.

Es kommt mir so vor, als würde ich jeden meiner Mitschüler heute zum ersten Mal sehen. Zum ersten Mal sehe ich Sachen, die mir nie zuvor aufgefallen sind. Einem der Mädchen fehlen die Haare büschelweise. Ein anderes hat tiefe Schnitte an den Armen. Ein Junge ist so dünn, dass sein Kopf aussieht, wie der Schädel eines Toten. Leo, der eigentlich ein Mädchen ist, sieht aus als hätte er seit Wochen nicht geschlafen.

Ich bin eine von ihnen. Oder? Nein! Ich gehöre nicht hier her. Nicht mehr. Ich werde gesund. Langsam zwar und nur in winzigen Schritten, aber es ist so. Noch ist es nicht so weit, doch irgendwann werde ich die Klinik verlassen können. Vielleicht sogar für immer.

"Es sei denn, Andersson bringt die davor um!", meldet sich eine hämische Stimme in meinem Hinterkopf zu Wort. Schnell bringe ich sie zum Schweigen. Andersson war die letzten paar Tage krank. Keine Ahnung, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen ist. Vielleicht hat er ja aufgegeben - auch wenn ich ihm das nicht zutraue. Oder - was ich eher vermute - es ist die Ruhe vor dem Sturm. Er versucht etwas Gras über den letzten Vorfall wachsen zu lassen, damit niemand Verdacht schöpft, wenn ich plötzlich tot bin. Er muss es nach einem Unfall aussehen lassen. Das ist zur gleichen Zeit leicht und verdammt schwer. Leicht, weil er Zugriff auf alle Medikamente hat und genau weiß in welcher Kombination sie mein Herz zum Stillstand bringen können. Schwer, weil es ziemlich auffällig wäre einer Traumpatientin plötzlich die Medikamente eines Patienten mit Schizophrenie zu geben. Er muss sich also genau überlegen, welche Medikamente er mir gleichzeitig geben könnte ohne Verdacht zu erregen.

Durch das Klappern der Tür werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Die junge Lehrerin betritt die Klasse mit einem strahlenden Lächeln und begrüßt uns mit einem enthusiastischen "Guten Morgen". Manche grüßen zurück, die meisten aber nicht. Ich glaube nicht, dass sie unhöflich sein wollen, für sie ist es einfach ein ganz normaler Morgen, ein weiterer Tag, den sie hier ausharren müssen, in der Hoffnung auf Besserung. Für sie ist an einem Morgen nichts Gutes und als Floskel einfach nur dumm. Ich weiß, dass es so ist, bis vor kurzem war ich auch so. Jedem, der mir einen "Guten Morgen" wünscht, hätte ich am liebsten den Kopf abgerissen. Auch wenn ich weiß, dass sie nur freundlich sein wollen.

Die Tür geht nochmal auf und jemand huscht herein. Nura! Geduckt läuft sie an der Lehrerin vorbei und zu ihrem Platz in der letzten Reihe. Als sie an mir vorbeikommt zögert sie und setzt sich schließlich auf Kathis Platz.

"Guten Morgen!", flüstert sie mir zu, "Schön dich wiederzusehen!"

"Guten Morgen", flüstere ich zurück. Erst ein paar Sekunden später bemerke ich, dass jetzt alle Blicke auf mich gerichtet sind. Kein Laut ist zu hören.

Schrei, den keiner hörtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt