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Agathe hat es von Anfang an gesagt: Nura wird nur für zwei Wochen in meinem Zimmer bleiben. Danach wird ein Platz auf ihrer Station frei. Und selbst wenn nicht hätte das auch nicht viel an der Tatsache geändert, dass jeder irgendwann geht. Jeder, der mit wichtig ist, haut irgendwann ab. Und ganz ehrlich? Ich kann sie verstehen. Ich verstehe jeden einzelnen von ihnen. Bei mir zu bleiben würde bedeutet, dass man immer und immer wieder an den Ort zurückkehren müsste, an dem man die dunkelste Zeit seines Lebens verbracht hat. Und deswegen verstehe ich auch, warum Nura auf Aufforderung von Schwester Cassie beginnt ihre Sachen zu packen. Ohne Widerrede.

Ich verstehe sie voll und ganz - aber es tut so weh! Es hätte mir klar sein sollen, dass sie nicht für immer da sein wird. Denn nichts ist für immer. Warum zur Hölle bin ich nicht einfach auf Distanz geblieben, so wie immer? Warum hat mein Körper hier eine Ausnahme gemacht? Meine Strategie hat doch die letzten Jahre auch geklappt!

Was ist an Nura anders? Warum hat ausgerechnet sie es geschafft meine Mauer zu durchbrechen? Hätte sie das nicht getan, hätte sie mich nicht dazu gebracht zu kämpfen, dann wäre mein Leben immer noch genau gleich, alles wäre so, wie es immer war.

Nura klappt ihren Koffer zu. Mit einem leisen Surren wird der Reißverschluss hochgezogen.

Ich will nicht, dass sie geht! Sie kann mich jetzt doch nicht einfach alleine lassen! Nura soll hier bleiben, sie soll meine Zimmerkollegin bleiben.

Doch Schwester Cassie steht an der Tür und wartet, leicht gestresst blickt sie Nura an.

"Können wir?", fragt sie mit einem Unterton, der ihre inner Hektik verrät. Nura nickt nur. Ich glaube sie ist traurig. Ich glaube sie will auch nicht das Zimmer wechseln. Nein! Das bilde ich mir nur ein!

Bevor Nura rausgeht, blickt sie mir ins Gesicht. Ich starre zurück. Meine Lippen zittern, ich spüre es genau. Doch ich schaffe es nicht zu weinen. Warum kann sie nicht hier bleiben?

Nein Muna, sei nicht so egoistisch!  Du bist hier in einer Psychiatrie, in einem Krankenhaus. Sie muss auf die Station, wo ihr am besten geholfen werden kann. Jemand mit Krebs passt nicht auf die Station für Herzkrankheiten - und so ist es auch hier. Aggressionen und Trauma passen nicht zusammen. Aber warum fühlt es sich so falsch an, dass sie geht?

Nura ist jetzt an der Tür. Ein letztes Mal blickt sie sich zu mir um.

"Auf Wiedersehen Muna!", verabschiedet sie sich leise, "Wir sehen uns in der Schule."

Dann dreht sie sich um.

Drei Schritte noch, dann ist sie weg.

Zwei.

Verdammt, ich muss etwas tun, ich muss sie aufhalten!

"Bleib!", würge ich irgendwie hervor.

Nura erstarrt mitten in der Bewegung.

"Bitte, Nura! Bitte bleib!"

Ich spreche so leise, dass ich mir nicht sicher bin, ob das überhaupt wer hören kann. Doch Nura hat es gehört. Und Schwester Cassie auch.

"Geh nicht!"

Dieses Mal bin ich etwas lauter. Ich höre wie meine Stimme zittert.

Schwester Agathe hat immer und immer wieder gesagt, dass ich alles bekomme, egal was, wenn ich nur Fortschritte mache. Aber Schwester Cassie ist nicht Schwester Agathe und Agathe ist heute nicht da. Cassie ist um einiges jünger als Agathe. Sie kennt sich noch nicht so gut aus. Sie weiß nicht, ob es wichtiger ist den offiziellen Aufträgen nachzukommen oder einer Patientin einen Wunsch zu erfüllen. Ich kann ihr ansehen, wie sie mit sich kämpft. Wahrscheinlich überlegt sie, was für Folgen es haben wird, wenn sie nicht tut, was man ihr sagt.

Sie könnte ihre Stelle verlieren. Und danach findet sie wahrscheinlich keine neue mehr.

Auf der anderen Seite steht die Tatsache, dass ich während meinem gesamten Aufenthalt hier noch nie so viel auf einmal gesagt habe. Und wenn Nura geht, könnte ich in mein altes Verhalten zurückfallen. Ich bin psychisch krank, mein gewohntes Umfeld sollte sich möglichst wenig verändern. Keine Veränderungen, vor allem keine negativen, denn das hat schon genügend Patienten in den Abgrund befördert. Mehrmals öffnet Cassie den Mund, doch sie bringt nichts heraus.

"Bitte!", fängt nun auch Nura an, "Ich könnte doch auch hier bleiben. die ganzen Therapieräume sind wirklich nicht so weit entfernt."

Cassie hadert immer noch mit sich.

"Ich werde mit Agathe und Oberarzt Andersson über die ganze Angelegenheit sprechen", verspricht sie zögerlich. Nura jubelt.

"Aber!", spricht Cassie weiter, "Bis dahin kommt Nura auf die andere Station. Tut mir leid, aber ich bin immer noch auf Probe hier."

Jetzt folgt Nura ihr aus dem Raum. Ich bleibe alleine zurück.

Sie wird nicht wiederkommen.

Keiner kommt je zurück.

Schrei, den keiner hörtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt