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Zu Mittag versucht es Doktor Andersson nochmal mit der Tablette. Und am Abend wieder. Ich nehme keine einzige, auch wenn mein Körper mich mit allen Mitteln dazu bringen will. Mein Körper ist ein mieser Betrüger, schon mein halbes Leben lang. Ich habe mit der Zeit gelernt ohne ihn zurecht zu kommen.
Mein Kopf will explodieren, meine Hände und Beine zittern wie verrückt. Ich bekomme nicht richtig Luft. Die Angst sitzt auf meinem Brustkorb, wie ein Elefant.
Ich weiß, dass Doktor Andersson andere Wege finden wird. Wege, die vielleicht um einiges grausamer sind, als eine kleine Pille.
Ich rede mir ein, dass ich nur lange genug überleben muss, dann wird er mir nichts tun. Dann werde ich gesund und erzähle jedem von seinen Schlägen. Und er kommt ins Gefängnis und ich bekomme ein normales Leben. Alles wird genau so, wie ich es mir immer gewünscht habe.
Aber tief in meinem Inneren, ganz tief unten, spüre ich, dass das alles nur Lügen sind. Lügen, die ich mir selbst erzähle um nicht wahnsinnig zu werden. Das alles ist nichts mehr als ein schönes Märchen, an das ich mich mit aller Kraft klammere.
Wäre da nicht Nura hätte ich schon lange aufgegeben. Ich möchte ihr zeigen, dass ich stark bin, ich will...ich will, dass sie stolz auf mich ist. Sie ist meine erste richtige Freundin seit fast zehn Jahren. Die erste, die für mich kämpft. Die einzige, die wirklich um mich trauern würde. Ich hoffe, dass sie weiß, dass sie Oberarzt Andersson ein Dorn im Auge ist. Ich hoffe sie weiß, dass sie auch sterben wird. Andersson wird niemanden am Leben lassen, der ihn verraten könnte. Wahrscheinlich würde er das gesamte Krankenhaus anzünden, sollte er es für nötig halten.
Vielleicht sollte ich es einfach tun. Die Pille nehmen. Dann ist das alles wenigstens vorbei. Dann muss ich endlich keine Angst mehr haben.
Was meine Mutter wohl am Ende dazu gebracht hat sterben zu wollen? Ach, ich wünschte, ich wüsste es!
Vielleicht hatte sie auch Angst - so wie ich. Ich wünschte nur, ich wüsste vor was.
Ach was zur Hölle denk ich denn?! Ich muss aufhören ihr nachzutrauern - sofort!
Als Papa starb, wollte Mama sterben. Seit Mama starb, will ich sterben. Wer wird wohl sterben, wenn ich aufgebe? Das muss ein Ende haben! Ich weigere mich, die nächste Tote zu sein! Ich bin stärker als das!
Alles in meinem Kopf beginnt zu rasen. Immer schneller und schneller und schneller. Und immer, wenn ich glaube, dass das Maximum erreicht ist, drehen sich meine Gedanken nur noch mehr im Kreis.
Ich halte das nicht mehr aus!
Tränen fließen über mein Gesicht.
Ich will das alles nicht mehr. Ich will sterben!
Nein, ich will leben.
Auch, wenn sterben eine verlockende Option wäre...

Nein!

Das Licht geht an. Nura sitzt aufrecht in ihrem Bett und starrt mich an. Ich starre zurück.
"Muna?", flüstert sie, "Geht es dir gut?"
Nein, es geht mir nicht gut! Das sieht man doch!
"Du...du hast geschrien. Ganz laut: Nein! Was ist los?"
Ich soll schreien? Kann nicht sein. Nura, das hast du dir eingebildet. Denkst du nicht, dass mich die Nachtschwester gehört hätte?
Mein Kopf hasst das Licht. Es ist böse! Es will meine Augen verbrennen!
Verzweifelt vergrabe ich mein Gesicht in den Händen und schluchze laut auf.
Ich höre jemanden auf mich zukommen. Jeder Schritt hallt in meinen Ohren wieder und verspottet mich.
Er kommt! Er kommt! Er wird mich töten!
Er bleibt vor meinem Bett stehen. Hoffentlich geht es schnell!
Warum hilft mir denn keiner? Irgendjemand muss doch da sein. Irgendjemand muss mich doch hören. Aber nein! Keiner wird mich hören! Ich kann ja nicht reden, ich kann ja nicht schreien.
Ich spüre wie jemand vorsichtig über mich hinweg greift.
Jetzt! Jetzt bringt er mich um! Er wird mir einfach den Schädel einschlagen. Doch der Todeshieb kommt nicht. Stattdessen höre ich das leise Piepen des Rufknopfes.
"Alles wird gut Muna!", höre ich Nura flüstern. Tröstend versucht sie ihren Arm um mich zu legen.

Nein!

Ich stoße sie weg.
Nura starrt mich an, als hätte sie einen Geist gesehen.
"Ganz ruhig, Muna!", versucht sie es nochmal, "Alles wird gut!"
Aber ich weiß, dass nichts gut wird. Ich werde sterben. Wenn nicht heute, dann morgen.
Jemand stürmt herein. Das ist er! Das ist Andersson. Und jetzt wird er es beenden.
"Alles in Ordnung bei euch? Was ist denn los?", höre ich eine weibliche Stimme. Die Nachtschwester! Oder ist das Doktor Andersson und er tut nur so?
"Ich weiß es nicht!", murmelt Nura, "Sie hat geschrien. Deswegen bin ich aufgewacht. Sie...sie hat zweimal laut Nein geschrien."
Die Nachtschwester sagt eine ganze Weile nichts.
"Sie...sie hat geschrien?", stottert sie schließlich, "Aber das ist unmöglich! Bist du dir sicher?"
"Ja und zwar zu 100 Prozent. Und selbst wenn sie nicht geschrien hat: Sie weint! Ich glaube sie hat eine Panikattacke. Können Sie ihr nicht irgendwas zur Beruhigung geben?"
Oh ja! Beruhigungsmittel wären jetzt toll! Oder auch eine Sonnenbrille, damit ich wenigstens meine Augen wieder aufmachen kann.
"Ich wünschte ich könnte Muna helfen! Aber...ich...wir dürfen ihr keine Beruhigungsmittel mehr geben."
"Wenn das eine Anweisung von Doktor Andersson ist, dann vergessen Sie sie! Der Typ hat seinen Doktortitel aus dem Internet!", schnaubt Nura abwertend.
"Bitte? Also das melde ich ihm!"
"Jaja, machen Sie das! Und jetzt helfen sie Muna!"
"Tut mir leid, aber wir dürfen Muna nichts geben. Sie...sie hatte kurz vor ihrem zehnten Geburtstag eine Überdosis. Sie hatte einen Herzinfarkt und lag für eine Woche im Koma. Ihr Gehirn musste acht Minuten ohne Sauerstoff zurechtkommen. Die Ärzte haben die Menge an Beruhigungsmittel nicht richtig notiert, sie hatte 17 Dosen an diesem einen Tag. Sie hat überlebt, aber sie hat jetzt eine Herzschwäche. Wir müssen extrem aufpassen, was wir ihr geben...und bei den ganzen Medikamenten, die sie braucht, sind Beruhigungsmittel einfach nicht mehr drin."
Aber ich will, nein, ich brauche was, das mich runterbringt! Irgendwas gegen den Schmerz - auch wenn es nur eine Kopfschmerztablette ist!
"Tut mir leid, Muna!", entschuldigt sich die Nachtschwester, "Ich darf dir nichts geben. Du musst allein dagegen kämpfen. Ich...ich könnte noch ein bisschen hierbleiben, wenn dich das beruhigt."
"Danke, aber auf sie aufpassen kann ich auch!", schnaubt Nura.
"Bist du dir da sicher? Wenn du mich brauchst, musst du nur den Knopf drücken! Dann bin ich sofort hier."
Nura brummt irgendwas unverständliches.
Sie würde nicht um Hilfe fragen. Dafür ist sie zu stolz. Das vorhin war einmalig. Ich hoffe die Schwester weiß das.
Wahrscheinlich interessiert es sie einfach nicht, denn ich höre sie gähnen, dann murmelt sie eine Verabschiedung und lässt uns alleine.
Ich höre wie Nura von meinem Bett weg geht. Sie darf nicht schlafen gehen! Sie kann mich jetzt nicht alleine lassen, sonst werde ich verrückt! Ich brauche jemanden, der mir sagt, dass alles gut ausgehen wird - auch, wenn ich selbst nicht daran glaube.
Das Licht geht aus. Dann wieder Schritte. Die Vorhänge werden aufgezogen. Ängstlich öffne ich die Augen.

"Besser so?"

Schrei, den keiner hörtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt