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Christine Rose ist etwa 45 Jahre alt. Vielleicht ein bisschen jünger, vielleicht ein bisschen älter. Seit fast fünf Jahren besucht sie mich regelmäßig. Ihre Tochter Anne wurde damals mit Magersucht diagnostiziert. Sie war für fast eine Woche meine Zimmerkollegin, dann kam sie auf eine andere Station. Wenig später starb sie. Seitem besucht Christine mich in etwa alle zwei Wochen.
Wenn sie da ist, erzählt sie mir über Gott und die Welt. Besonders viel spricht sie über Anne. Ich glaube sie macht das um nicht mehr ganz so traurig zu sein. Sie hatte mal zwei Kinder, jetzt hat sie keines mehr. Dabei ist ihr Sohn nicht mal tot. Aber nach Annes Tod stieg er in ein Flugzeug und kam einfach nie mehr zurück.
Christine ist traurig, aber die große Traurigkeit hat sue trotzdem nicht. Ich weiß nicht, wie sie das schafft. Ich habe nur meine Mama verloren - trotzdem bin ich kaputt. Sie hat ihre Kinder verloren, aber ihr Leben geht weiter. Ich wünschte ich wäre wie sie.
"Deine neu Zimmergenossin isst dir aber nicht dein Essen weg, oder?", fragt sie mich und mustert mich besorgt von oben bis unten, "Du bestehst ja nur noch aus Haut und Knochen! So dünn! Ich werde deinen Ärzten sagen, dass sie deine Portionen erhöhen sollen."
Entschlossen nickt sie und greift nach meiner Hand. Ängstlich zucke ich weg. Ich hasse Berührungen! Christine seufzt.
"Warten Sie mal, hat Muna auf sie reagiert?", höre ich Nuras erstaunte Stimme in einem beinahe ehrfürchtigen Ton aus Richtung des Fensters.
"Ja klar!", antwortet Christine, "Sie mag keine Berührung. Sie zuckt immer sofort weg."
"Das heißt, dass Muna doch noch wahrnimmt, was um sie abgeht, oder? Sie reagiert!"
"Natürlich reagiert sie, wer hat je was anderes behauptet?"
Jeder? Ich auch. Denn ganz ehrlich, einen Reflex kann man wohl kaum als Reaktion auf sein Umfeld werten.
"Die Ärzte", antwortet Nura bedrückt, "Sie glauben ihr Hirn ist Matsch...wegen dem was sie erlebt hat."
Ist es ja auch irgendwie. Sonst wäre ich wohl kaum hier! Sonst könnte ich sprechen und lachen und auf eine normale Schule gehen.
"Wenn Muna nicht ganz da ist, dann hängt das mit den ganzen Medikamenten zusammen, die man ihr gibt. Hast du mal beobachtet, wieviele unterschiedliche Pillen sie allein schon am Morgen schluckt?"
Langsam schüttelt Nura den Kopf.
Ich weiß es genau. Es sind sieben. Sieben jeden Morgen, drei zu Mittag und fünf am Abend. Plus Schlafmittel und zusätzliche Tabletten, die Oberarzt Andersson mir verschreibt.
Als ich noch schreien konnte, gaben sie mir noch Beruhigungsmittel. Manchmal acht oder neun Mal am Tag. So lange, bis ich keine Luft mehr bekam und alles dunkel wurde. Als ich wieder aufwachte, lag ich auf einer anderen Station. Ich hatte Schmerzen in der Brust und wollte nur schreien - aber ging nicht mehr. Nichts ging mehr. Gar nichts.
Anfangs machte ich sogar noch kleine Fortschritte, aber das ging den Ärzten nicht schnell genug. Also kamen die Tabletten wieder. Irgendwann hatte Oberarzt Andersson die glorreiche Idee mich zu medizinischen Tests anzumelden.
Heute ändern sich meine Tabletten regelmäßig. Etwa einmal pro Monat. Meistens bewirken sie gar nichts. Manchmal machen sie, dass es mir noch schlechter geht. Ein paar Male wurde ich von ihnen ohnmächtig, einmal musste ich wieder auf die andere Station.
Egal wie schlecht es mir geht, Oberarzt Andersson macht weiter. Ich habe mal versucht einen Hungerstreik zu machen, ist noch gar nicht so lange her. Da hat er mich an Maschienen angeschlossen - er hat mich so lange damit ernähren lassen, bis ich wieder freiwillig aß. Das war nicht schön. Ich mach das nie wieder.

"Warum setzt man die Medikamente nicht einfach ab?", reißt mich Nuras Stimme wieder zurück ins Hier und Jetzt, "Die Ärzte müssen doch eigentlich merken, dass die ganzen Pillen nicht helfen!"
"Es ist einfacher!", erklärt Christine, "Einfacher und günstiger. Wieso sollte man Ressourcen für jemanden verschwenden, dem man wahrscheinlich eh nicht helfen kann? Es ist praktischer Leute wie Muna ruhig zu stellen."
Nura antwortet nicht sofort. Sie scheint nachzudenken. Wieder kaut sie auf ihrer Lippe herum.
"Angenommen Muna würde jetzt anfangen Fortschritte zu machen - würden die Ärzte dann die Tabletten weglassen?"
Christine zuckt mit den Schultern, "Das weiß nur Gott."
Natürlich würden sie die Tabletten nicht absetzen. Sie würden alle nur glauben, dass die Tabletten endlich wirken. Und Oberarzt Andersson würde mir nur noch mehr Tabletten verschreiben, aus Angst, dass ich irgendwann wieder sprechen kann und ihn verrate.
Nun steht Christine von ihrem Stuhl auf und streckt sich. Ich kann ihre Gelenke knacken hören.
"War schön dich wieder mal gesehen zu haben!", sagt Christine und tätschelt mir die Hand - jedenfalls bis ich wegzucke.
Die Tür fällt ins Schloss.
Nura baut sich vor meinem Bett auf.
"Tut mir leid!", flüstert sie, "Ich möchte nur, dass du endlich Fortschritte machst!"
Sie greift nach meiner Hand und hält sie fest. Ich möchte weinen. Ich möchte schreien. Ich möchte, dass Nura mich loslässt. Aber sie lässt nicht los. Immer wenn ich es schaffe meinen Arm zu befreien, greift sie sofort wieder danach. Sie foltert mich.
So eine hirnverbrannte Idee hatte noch keiner meiner Ärzte, nicht mal Doktor Andersson.
Es könnte funktionieren.

Schrei, den keiner hörtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt