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"So ein Entzug muss echt hart sein. Mein Vater hat es zweimal versucht. Er hat nie lange durchgehalten. Das war bevor...bevor mich das Jugendamt in eine andere Familie gebracht hat!"
Nura atmet tief durch. Als sie weiterspricht, zittert ihre Stimme.
"Er...er war ein guter Vater. Er hat mich kein einziges Mal angeschrien. Nie. Egal was ich angestellt habe. Aber...aber er hat Mama zu sehr geliebt. Und sie...sie hat ihn betrogen. Immer und immer wieder.  Und er hat ihr jedes Mal verziehen. Bis sie angefangen hat mich zu schlagen. Da hat er sie vor die Tür gesetzt. Sie hat alles getan um ihn umzustimmen: Sie hat sich entschuldigt, hat ihm Geschenke gemacht, ihm gedroht, ihn erpresst. Er hat nie nachgegeben. Damals hat er angefangen zu trinken. Und als das in der Schule bekannt wurde, haben die Lehrer das Jugendamt verständigt. Und die haben mich ihm weggenommen. Nur vorübergehend, hieß es am Anfang, aber das Ganze ist jetzt drei Jahre und acht Monate her und ich bin immer noch nicht wieder bei ihm."
Am liebsten würde ich aufstehen und sie umarmen. Aber sie spricht sofort weiter, bevor ich es überhaupt versuchen kann.
"Morgen ist Samstag. Bei mir kommen ein paar Freundinnen von der letzten Schule zu Besuch. Jedenfalls haben sie gesagt, dass sie kommen. Und meine Therapeutin hat meinen Vater und meine Mutter angerufen. Sie findet, dass wir das Problem dort bekämpfen müssen, wo es begonnen hat. Und das geht nur, wenn alle dabei sind. Wahrscheinlich wird also gar keiner kommen. Wie siehts bei dir aus? Gibt es bei dir irgendjemanden, der dich besuchen kommt?"
Fragend schaut sie mich an. Ich wende meinen Blick ab und starre meine Hände an.
Nein, Nura. Bei mir gibt es keinen. Christine war erst vor ein paar Tagen da, es dauert also noch mindestens eine Woche, bis sie wieder kommt.
Vielleicht kommt bei dir ja wirklich niemand. Das wäre schön. Wir könnten den Samstag zusammen verbringen. Du könntest mir Sachen erzählen und ich würde dir zuhören. Und wenn Andersson mich umbringt, bin ich wenigstens nicht alleine.
Ach, ich bin so verdammt egoistisch. Es geht nicht immer nur um mich. Nura hat wenigstens Freunde...im Gegensatz zu mir. Sie sollte ihre Freundschaften pflegen, wer weiß, wie lange sie halten.
"Zu dir kommt also niemand? Wirklich keiner?", bohrt Nura überrascht nach, "Keine Freunde, keine Großeltern, Onkeln, Tanten? Was ist mit deinem Vater?"
Ich bin die Letzte aus meiner Familie. Meine Eltern waren beide Einzelkinder. Meine Großeltern väterlicherseits starben schon vor meiner Geburt, die Eltern meiner Mutter ein Jahr nach meiner Einweisung.
Und Freunde? Ist das dein Ernst? Es ist ziemlich schwer Freundschaften zu pflegen, wenn du Leute nur anstarren kannst! Die meisten finden das ziemlich schnell gruselig.
Nura sagt nichts mehr. Vielleicht hat sie mich verstanden. Oder sie hat einfach keine Lust mehr mit einer Salzsäule zu reden - wer will das schon?
Nicht mal ich würde mit mir reden wollen. Ich würde es so machen, wie die meisten Menschen: Mich mitleidig anstarren und ignorieren. Vielleicht ein paar Scheinfragen stellen, damit mir keiner vorwerfen kann, dass ich die arme kleine Muna mit dem Hirn aus Matsch schlecht behandle.
Meine Hände beginnen wieder zu zittern. Für kurze Zeit waren die Entzugserscheinungen weg, aber jetzt, jetzt geht es wieder von vorne los! Bitte nicht! Ich dachte, ich habe das hinter mir.
Etwas Dunkles fliegt über mich hinweg. Was zur Hölle war das? Was geht hier vor sich?
Die Schatten! Oh Gott, sie bewegen sich! Warum bewegen die sich? Schatten können sich nicht bewegen, nicht so! Das ist einfach nicht möglich!
Warum habe ich aufgehört die Tabletten zu nehmen? Es ist um einiges angenehmer eine Salzsäule ohne Hoffnung zu sein, als eine auf Entzug!
Was ist, wenn es nicht bringt? Was, wenn ich es nicht schaffe? Ich habe mir nie Gedanken über den Tod gemacht. Ich habe jeden Gedanken an das Ende weggesperrt. Denn darüber nachzudenken würde bedeuten, dass ich mich mit Mama beschäftige. Dass ich über den Tag nachdenke, an dem all das Böse in meinem Leben begann.
Als Anne starb hat eine Lehrerin mit uns über den Himmel gesprochen. Sie hat gesagt, dass Anne dort glücklich ist und endlich nicht mehr hungern muss.
"Die Therapie bringt nichts!", flüstert Nura in die Dunkelheit. Sie ist so leise, dass ich sie fast nicht verstehe.
"Die Therapeutin versteht mich nicht. Sie glaubt, dass meine Eltern schuld sind. Aber das sind sie nicht... jedenfalls nicht mein Vater."
Nura reibt sich stöhnend die Augen.
"Das Ganze wird nichts bringen. Mein Vater wird weinen und meine Mutter wird allen zeigen, das sie ein Arschloch ist."
Sie atmet tief durch.
"Sie sollte den Sohn von Pflegefamilie Nummer Drei einladen. Mit ihm hatte ich meine erste Prügelei. Er hat mein Taschengeld gestohlen, meine Schulsachen versteckt und mir in der Nacht die Haare abgeschnitten. Aber natürlich ist er nur der arme Junge, dem von der bösen Pflegetochter ein Zahn ausgeschlagen wurde. Weißt du, den Leuten ist es egal, wie mein Leben wirklich ist...wie ich wirklich bin. Sie sehen nur meine Akte und stempeln mich ab. Familie Vier hat die anderen Pflegekinder vor mir gewarnt. Also war ich an allem Schuld. Seit Eltern Nummer Fünf werde ich nur noch geduldet. Jeder wartet nur auf den nächsten Fehltritt. Das macht mich wild! Es macht mich so unglaublich zornig!"
Nura lehnt ihren Kopf gegen die Scheibe.
"Tut mir leid, dass du dir das ganze Zeug aus meinem verkorksten Leben anhören musst!", flüstert sie, "Wahrscheinlich interessiert es dich nicht mal. Aber ich bin froh einfach mal mit jemanden reden zu können, der mich nicht sofort verurteilt."

Schrei, den keiner hörtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt